Klahr    Alfred Klahr Gesellschaft

Verein zur Erforschung der Geschichte der Arbeiterbewegung

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Hans Hautmann: Wohnbau und Wohnungspolitik im „Roten Wien“ 1919–1934

Wenn wir uns auf unserer heutigen Tagung mit der Geschichte und Zukunft des sozialen Wohnbaus beschäftigen, dann kommt Österreich das Verdienst zu, in seiner Vergangenheit auf ein Beispiel verweisen zu können, das weltweit einzig dasteht. Es sind das die Wiener Gemeindebauten der 1. Republik, die, auch im internationalen Maßstab, eine der größten sozialen Wohnbauleistungen des 20. Jahrhunderts darstellen.
Zunächst eine Vorstellung von der zahlenmäßigen Dimension: In den Jahren 1919 bis 1934 wurden 377 Wohnhausanlagen mit 61.175 Wohnungen errichtet, das waren im jährlichen Durchschnitt 25 Anlagen mit 4.078 Wohnungen. 90 Prozent der Objekte und Wohnungen baute man in Form großer, mehrstöckiger Blocks, 10 Prozent in Form von Siedlungshäusern mit Kleingärten.
Die erste Voraussetzung für den Wohnbau ist die Beschaffung der Grundstücke. Wie hat es damit ausgesehen? Das Rote Wien“ war aus ganz bestimmten historischen Ursachen in der Lage, die Macht der privatkapitalistischen Bodenspekulation in der österreichischen Hauptstadt zwar nicht völlig zu brechen, aber weitgehend einzudämmen. Nicht nur die Mieterschutzgesetzgebung, die einer privaten Bautätigkeit hemmend im Weg stand, machte für jene, die aus der Zeit vor 1914 Baugrund besaßen, den Besitz unrentabel, sondern auch die städtische Wertzuwachssteuer bewirkte eine Erschwerung gewinnbringenden privaten Weiterverkaufs. Die Hoffnungen mancher Bodenspekulanten auf baldige Beseitigung des Mieterschutzes wurden 1922 endgültig zunichte gemacht; viele Besitzer waren daher froh, ihr angelegtes Kapital frei zu bekommen. Die Gemeinde Wien erwarb so wertvolle Baugründe im Stadtgebiet zu Preisen, die oft nur einen Bruchteil (etwa 10 bis 15 Prozent) des Friedenswertes darstellten. Um beim Verkäufer durch die Bekanntgabe, dass die Gemeinde Wien an seinem Grundstück interessiert sei, nicht Forderungen nach einem überhöhten Bodenpreis zu stimulieren, tätigte die Stadtverwaltung häufig über Mittelsmänner ihre Käufe.
Das Resultat sah folgendermaßen aus: 1919 befanden sich im Besitz der Gemeinde Wien 5.487 Hektar (noch aus der Zeit der christlichsozialen Stadtverwaltung). Bis 1931 erfolgte der Ankauf der Drasche-, Frankl- und Bodencredit-Gründe, sodass sich der Besitz der Gemeinde Wien auf 8.150 Hektar erhöhte (das waren 38,9 Prozent der gesamten Gemeindefläche). Sie spielte damit die dominierende Rollte und konnte daher die städtische Bodenpolitik praktisch ungehindert regulieren.
Die zweite Voraussetzung jedweder Bautätigkeit ist die Bereitstellung der finanziellen Mittel. Im Roten Wien wurden die Baukosten nicht aus Anleihen, sondern über laufende Steuereinnahmen aufgebracht, wodurch die Lösung des Problems der Wohnbaufinanzierung ohne Verschuldung der Gemeindekasse gelang. Die Steuereinnahmen der Gemeinde Wien waren zusammengesetzt aus: a) Erträgen aus eigenen Landessteuern, darunter Steuern auf Luxus und besonderen Aufwand sowie aus der Wohnbausteuer; b) Erträgen aus Zuschlägen zu staatlichen Steuern; und c) Anteilen am Ertrag der Bundessteuern.
Nach wie vor kann man auf den Gemeindebauten des Roten Wien die Inschrift lesen: „Wohnhausanlage der Gemeinde Wien, errichtet aus den Mitteln der Wohnbausteuer.“ Diese Wohnbausteuer war die berühmteste aller Steuern des genialen Finanzstadtrats Hugo Breitner, und sie in ihrer sozialen Bedeutung und ökonomischen Wirkung etwas näher zu betrachten, ist für die aktuelle Diskussion darüber, wie fortschrittliche Wohnungspolitik aussehen soll, sehr lehrreich.
Die Wohnbausteuer wurde am 20. Jänner 1923 vom Wiener Landtag als Gesetz beschlossen und war eine zweckgebundene Steuer, deren Erträge einzig und allein dem Wohnbau zuflossen. Finanztechnisch war sie eine Kombination von direkter, stark progressiver Massensteuer mit einer Luxussteuer. Ihr Prinzip lautete: Schonung der Mieter von Kleinwohnungen bei gleichzeitig stärkerer Belastung der Bewohner von teureren Objekten. Das Ergebnis sah so aus: Die 527.731 billigen Wiener Wohnungen und Geschäftslokale (82 Prozent aller Mietobjekte) trugen nur 22,6 Prozent zum Gesamtaufkommen der Wohnbausteuer bei, dagegen die 3.470 teuren Mietobjekte (0,5 Prozent der Gesamtzahl) 44,6 Prozent, also doppelt so viel.
Von gewaltiger sozialer Bedeutung war die Art, wie die Gemeindebauwohnungen vergeben wurden sowie die Regelung der Wohnungskosten. Die Vergabe der Gemeindebauwohnungen erfolgte nach sozialer Bedürftigkeit aufgrund eines detaillierten, 17 Kriterien umfassenden Punktesystems. De facto werden die Wohnungen den neu Einziehenden gratis zur Verfügung gestellt. Die monatlichen Kosten einer Gemeindebauwohnung beträgt nur fünf Prozent des durchschnittlichen Lohnes eines qualifizierten Arbeiters (vor 1914 20 bis 25 Prozent).
Die Kennzeichen der Gemeindebauten des Roten Wien waren: Ausgedehnte Wohnanlagen in mehrstöckiger Bauweise; Randverbauung mit geräumigen Innenhöfen; prinzipiell werden nur 50 Prozent der Grundfläche verbaut, meist sogar weniger; gärtnerische Gestaltung der Innenhöfe mit Ruhe- und Sitzgelegenheiten für Erwachsene und mit Kinderspielplätzen; Gemeinschaftseinrichtungen mit Zentralwäschereien, Wannen- und Brausebädern, Kindergärten, Horten, Krankenkassenambulatorien, Mütterberatungsstellen, Zahnkliniken, Büchereien, Vortragssälen, Filialen des „Konsum“.
Die Kennzeichen der Gemeindewohnungen waren: Direkter Zugang von der Stiege und Verzicht auf das alte „Gangsystem“; in jedem Stockwerk liegen an der Treppe höchstens vier Wohnungen; alle Wohnungen haben einen Vorraum, eine Toilette mit Wasserspülung im Wohnungsverband, eine Wohnküche mit Kochnische, Wasserspülung und Gasherd; elektrische Beleuchtung und Koksöfen für Heizungszwecke; Fußböden aus Eichenbohlen; die Küchen sind teilweise verfliest; alle Zimmer haben direktem Lichtzutritt; die Küche hat ihr Fenster unmittelbar ins Freie, auf die Straße oder in den großen Innenhof; den Wohnungen sind häufig Balkone vorgelagert; jede Wohnung hat eine Keller- oder Bodenabteilung.
Wie sah es bei den Wohnungsgrößen aus? Sie gliederten sich in vier Typen: a) Ledigenwohnräume mit 21 m2 Nutzfläche (Zimmer, Kochnische, Vorraum, WC); b) Wohnungen mit 40 m2 (Wohnzimmer, Küche, Kabinett, Vorraum WC); c) Wohnungen mit 49 m2 (Wohnzimmer, Küche, zwei Kabinette, Vorraum, WC); und d) Wohnungen mit 57 m2 (zwei Zimmer, Küche, Kabinett, Vorraum, WC).
Wie man erkennen kann, fehlten uns heute bei Neubauten selbstverständlich erscheinende Standards an Komfort wie Lifte, Zentralheizung und eigene Badezimmer bei den Gemeindebauten der Zwischenkriegszeit noch. Die sozialdemokratische Stadtregierung verfolgte aber den Grundsatz, die Wohnungsnot in Wien in möglichst kurzer Zeit durch den Bau möglichst vieler Einzelwohnungen zu möglichst erschwinglichen Preisen zu bannen und dabei den elementaren kulturellen und sozialen Anforderungen in optimal realisierbarer Weise Rechnung zu tragen. Dieses Prinzip konnte vorerst nur durch den Verzicht auf die genannten höheren Komfortstandards in die Tat umgesetzt werden. Ohne diese Selbstbeschränkung, die besonders der Finanzstadtrat Breitner in klarer Einsicht in die kostenmögliche Realität verfocht, hätte sich das gesamte Wohnbauprogramm nicht über mehr als zehn Jahre erstrecken können. Eine Ausstattung wie eben aufgezählt sowie eventuelle bautechnische Experimente hätten die Wohnungen mindestens um das Doppelte verteuert und die Wohnbauleistung aus den vorhandenen Mitteln drastisch verringert. Sicher ist, dass die Gemeindewohnungen durch die vorhin beschriebenen Gemeinschaftseinrichtungen ausgezeichnet ergänzt wurden, in ihrer Ausstattung den alten, von privater Hand errichteten Wiener Arbeiterwohnungen qualitativ weit überlegen waren und sich bei der Arbeiterschaft größter Beliebtheit erfreuten. Diese Beliebtheit hat sich bis heute erhalten, und das Bestreben, eine frei gewordene Wohnung in einem der alten Gemeindebauten beziehen zu können, ist bei der Wiener Bevölkerung unvermindert stark und intensiv.
Man kann an der Frage der Wohnbaupolitik im Roten Wien nicht vorbeigehen, ohne nicht auch etwas zum architektonischen und ästhetischen Wert der damaligen Gemeindebauten zu sagen. Denn sie waren nicht bloß Bauten, hinter denen soziale Motive standen, sondern auch schön und in ihrem Stil mit anderen Arbeiterwohnbauten anderer Länder jener Zeit unverwechselbar.
Der Architekt, der diesen Stil prägte, war Hubert Gessner. Sein ebenso einfacher wie genialer Gedanke war, die Stiegeneingänge zu den Wohnungen nicht mehr von der Straßenseite, d.h. von „Außen“, sondern vom großen Hof, von „Innen“, vom Bewohnerkommunikationszentrum her zugänglich zu machen. Damit schuf er bereits 1920 mit dem Metzleinstaler-Hof das Baumuster aller späteren Wiener Gemeindebauten. Hubert Gessner war auch jener Architekt, der der Sozialdemokratischen Partei schon vor 1914 politisch am nächsten stand und innerlich ein überzeugter Marxist. Einige seiner Hauptwerke seien aufgezählt:
1902 Arbeiterheim Favoriten
1905 Lagerhaus des Konsumvereins in Favoriten
1908 Hammerbrotwerke in Schwechat
1911 Geschäftshaus des Vorwärts-Verlages in Margareten, Rechte Wienzeile
1912 Unfallversicherungsanstalt in Mariahilf, Linke Wienzeile
1920 Metzleinstaler-Hof in Margareten (252 Wohnungen)
1924 Lassalle-Hof in der Leopoldstadt (294 Wohnungen)
1924 Reumann-Hof in Margareten (478 Wohnungen)
1925 Heizmann-Hof in der Leopoldstadt (213 Wohnungen)
1926 Gartenstadt (nach 1945 „Karl-Seitz-Hof“) in Floridsdorf (1.173 Wohnungen)
1928 Arbeiterkammer in Linz
1929 Arbeiterkammer in Graz
Gessners großes Konzept war das des „Volkswohnungspalastes“, am reinsten verwirklicht im Reumannhof und in der Gartenstadt. Mit dem „Volkswohnungspalast“, dessen sozialen Inhalt und dessen darauf Bezug nehmenden realistischen und klassenorientierten Formen setzte sich Gessner bewusst in Gegensatz zur „Avantgarde“, zur „Neuen Sachlichkeit“ und zu anderen „Ismen“ der 1920er Jahre mit ihrem ästhetisch-intellektuellen und sich fortschrittlich gebärdenden Elitedenken.
Allgemein gilt ja der Karl-Marx-Hof des Architekten Karl Ehn als der berühmteste und imposanteste Gemeindebau des Roten Wien, und er ist in der Tat ein hervorragendes Werk. Die beste und schönste Anlage mit einer bewundernswerten künstlerischen Durchbildung aller Details ist aber die Gartenstadt Hubert Gessners in Wien-Jedlesee in Floridsdorf.
Das Gessner’sche Konzept war nichts weniger als der Versuch, im Wohnbau die ethisch-moralischen Normen der Arbeiterklasse – proletarische Solidarität, gegenseitige Hilfe und Unterstützung, Organisiertheit, Streben nach Übereinstimmung zwischen individuellen und kollektiven Interessen – zum Gradmesser der zwischenmenschlichen Beziehungen ihrer Bewohner zu machen. Die im „Volkswohnungspalast“ gipfelnde Architektur der „Höfe“ bedeutete daher eine Kampfansage an alle anderen Varianten des Wohnbaus, sei es die Siedlerbewegung, die dem Persönlichkeitsideal der bürgerlichen Umwelt erlag, die Einzelperson in den Mittelpunkt zu stellen, sei es der Massenwohnbau in Form eines bloß additiven Zusammenfügens von „Wohnmaschinen“, was damals sowohl von der „Avantgarde“ (Le Corbusier, Gropius, Kommunehäuser in der Sowjetunion der 1920er Jahre usw.) gefordert wurde, als auch im kapitalistischen Wohnbau bis zum heutigen Tag vorherrscht.
Gessner und mit ihm die Architekten und Architektinnen der Wiener Gemeindebauten (es war ja auch die spätere Kommunistin Grete Schütte-Lihotzky mit dabei) begriffen nicht nur die realen Lebensbedingungen der arbeitenden Menschen, sondern setzten mit ihren Bauten zutiefst proletarische Inhalte. Sie waren nicht für eine kleine Elite, sondern zum Nutzen der Allgemeinheit, für die Volksmassen tätig, sie schufen den Arbeiterinnen und Arbeitern eine menschenwürdige Umwelt und versuchten zugleich erzieherisch auf ihre kulturelle Entwicklung einzuwirken. Die Gemeindebauten waren nicht „Wohnhäuser“ im üblichen Sinn, sondern ein konstituierendes, bewegendes, veränderndes Moment der sozialen Wirklichkeit. In ihnen fiel die Trennung zwischen „Nützlichem“ und „Schönem“ weg. Sie entzogen die Wohnung der Privatspekulation und machten sie zu einem Massenprodukt, zu einem sozialen Grundrecht für die Massen. Sollte künftig wieder unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen sozialer Wohnbau als humane Errungenschaft Wirklichkeit werden, so wird das architektonische Baumuster der Anlagen des Roten Wien ein Vorbild sein, an das man anknüpfen kann.

Referat auf der Tagung der Alfred Klahr Gesellschaft und des Bildungsvereins der KPÖ Steiermark „Wohnbau muss leistbar sein!“ Geschichte und Zukunft des sozialen Wohnbaus am 12. Mai 2012 in Graz

 

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