Klahr    Alfred Klahr Gesellschaft

Verein zur Erforschung der Geschichte der Arbeiterbewegung

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Hans Hautmann: Friedrich Heers „Kampf um die österreichische Identität“

Der Böhlau-Verlag hat gut daran getan, eines der Hauptwerke Friedrich Heers neu aufzulegen. Vordergründig geschah das aus Anlaß des 80. Geburtstages des 1983 verstorbenen Autors, generell aber wohl aus der Erwägung heraus, daß das 1981 erstmals erschienene Buch auf erneutes Interesse stoßen würde. Und so verhält es sich auch. Heers Ausführungen sind heute, da man alles daransetzt, das in den Jahrzehnten seit 1945 konstituierte Selbstverständnis aus den Köpfen der Österreicher wieder auszutreiben, aktueller denn je und von größter Bedeutung.

Eduard Rabofsky schrieb in seinem Nachruf auf Friedrich Heer am 21. September 1983 in der „Volksstimme“: „Ein österreichischer Historiker und Schriftsteller von Weltruf ist gestorben. Seine hervorragenden wissenschaftlichen Arbeiten werden nun in den Vordergrund der Erinnerung gestellt. Aber diese wahrhaft christliche Demokrat war vor allem ein unbeirrbarer Kämpfer, wenn es um die Unabhängigkeit Österreichs und um den Frieden ging... Friedrich Heer hat den Menschen, die für den Frieden etwas Entscheidendes tun können, ein großes Erbe hinterlassen.“

Sein Lebensweg

Friedrich Heer wurde am 10. April 1916 in Wien geboren. Er besuchte das traditionsreiche Akademische Gymnasium, an dem er 1934 maturierte. Einer seiner Mitschüler war Christian Broda, über den er, ein engagierter Katholik spirituell-religiöser Prägung, erstmals mit marxistischen Ideen in Berührung kam. Ab 1934 studierte Heer Geschichte, Kunstgeschichte und Germanistik an der Universität Wien und promovierte 1938 mit einer Dissertation zur Geistesgeschichte des Mittelalters.
Schon als Student geriet er als entschiedener Gegner des Nationalsozialismus in eine politische Auseinandersetzung mit seinen Lehrern, großdeutsch oder offen nazistisch eingestellten Professoren wie Srbik, Hirsch, Brunner, Sedlmayr und Nadler. Heers Schlüsselerlebnis war der „Anschluß“. Vierzig Jahre nach diesem Ereignis schrieb er: „Mein März 1938 bildet die Mitte, bildet die unheilbare Wunde meines Lebens... Die Erfahrung des österreichischen Selbstverrats, von oben her, in Dosen eingenommen, hat mich - und einige meiner besten Freunde - zutiefst versehrt.“
Bereits am 11. März 1938 wurde Friedrich Heer zum ersten Mal von den österreichischen Nazis festgenommen und nach seiner Freilassung in den Folgejahren noch mehrmals inhaftiert. Am 1. Jänner 1940 in die deutsche Wehrmacht eingezogen, hielt er Verbindungen zu Widerstandsgruppen aufrecht, darunter zur Gruppe Karl Roman Scholz und zur Gruppe „Soldatenrat“. Seine Maxime war der Zusammenschluß aller österreichisch-patriotischen Kräfte, der gemeinsame Kampf von Christen, Kommunisten und Gewerkschaftern gegen die Hitlerdiktatur. Dieser Linie blieb Friedrich Heer auch nach 1945 unbeirrt treu. Er war es, der im Jahr 1954, inmitten der alles beherrschenden und vergiftenden Atmosphäre Kalter-Kriegs-Hysterie, im Weiheraum des Wiener Landesgerichts auf den von den Nationalsozialisten hingerichteten kommunistischen Widerstandskämpfer Alfred Rabofsky eine berühmt gewordene Gedenkrede hielt, in der er die Vorbildfunktion der Ethik des Antifaschismus für Österreichs nationale Identität nachdrücklich unterstrich.
Der „Dank des Hauses Österreich“ blieb gerade wegen dieser seiner Haltung aus. Die Protagonisten jenes erzkonservativen politischen Katholizismus, den Heer so leidenschaftlich kritisierte, verhinderten die akademische Karriere des weltbekannten Mannes und schoben ihn auf zweitrangige Positionen ab, in die Redaktion der Wochenzeitschrift „Die Furche“ (1946 - 1961) und als Chefdramaturg ans Burgtheater (ab 1961). An der Universität Wien blieb er nach seiner Habilitation jahrelang ein schlichter Dozent und bekam erst nach dem Abgang seines erbittertsten Gegners, des Unterrichtsministers Drimmel, die mehr dekorative Würde eines Titularprofessors verliehen. „Scheitern in Wien“ lautete der vielsagende Titel eines seiner Romane, der 1974 erschien.
Bis zuletzt atem- und pausenlos publizierend verstarb Friedrich Heer nach langer, schwerer Krankheit (Blutkrebs) am 18. September 1983 in Wien.

Sein Werk

Das Oeuvre, das Friedrich Heer hinterließ, ist gigantisch. Unglaubliche 50.000 Druckseiten umfaßt sein Werk: 55 Bücher und Tausende Artikel, Beiträge in Sammelwerken, Studien und Essays. Die Thematik ist geradezu abenteuerlich weit gespannt, von der monumentalen „Europäischen Geistesgeschichte“ (1953) über „Europa, Mutter der Revolutionen“ (1964), „Gottes erste Liebe“ (1967), „Der Glaube des Adolf Hitler“ (1968) bis zum „Kampf um die österreichische Identität“ (1981). Zwei Dinge waren es aber, um die sein wissenschaftliches Arbeiten beständig kreiste und die mit seinem Schockerlebnis des März 1938 in Verbindung stehen: die Rolle der katholischen Kirche, deren Wiener Kardinal die Gläubigen aufrief, freudig für den „Anschluß“ an das Großdeutsche Reich zu stimmen, und die Geschichte Österreichs und seines komplizierten Weges zur Nationswerdung. Heer, der in den sechziger Jahren gemeinsam mit seinen Mitstreitern August M. Knoll und Wilfried Daim als „Linkskatholik“ galt, war der erste, der die jahrhundertealten Wurzeln des christlichen Antisemitismus schonungslos aufdeckte und in einen direkten Konnex mit dem Antisemitismus österreichischer Prägung des Katholiken Adolf Hitler brachte. (Hitler, getaufter Katholik, ist bis zu seinem Selbstmord im Bunker der Reichskanzlei nie aus der Kirche ausgetreten.) Sein Fazit: „Nicht nur die Massenpsychosen des europäischen Katholizismus des 19. Jahrhunderts ... bedürfen dringend einer nüchternen Untersuchung. Sehr, sehr viel an den Katastrophen und Krisen gerade in den letzten Jahrhunderten bedürfen einer historischen, soziologischen, tiefenpsychologischen und naturwissenschaftlichen Durchforstung. Wir Christen, wir Katholiken schleppen entsetzlich viele unbewältigte Vergangenheiten mit uns herum.“ Die Therapie erblickte Heer im „Gespräch mit dem Feinde“ (so der Titel eines Buches aus dem Jahr 1949, mit dem er schlagartig über die Grenzen der akademischen Fachwelt hinaus bekannt wurde), im Abbau der Berührungsängste gegenüber dem Kommunismus, in Toleranz, Weltoffenheit, Zusammenwirken über ideologische Gegensätze hinweg für eine friedliche Zukunft der Menschheit. Von den Torbergs, Weigels, Gerd Bachers und Konsorten heimste er dafür wütende Attacken ein und den stereotypen Vorwurf, damit gewollt oder ungewollt dem „bolschewistischen Totalitarismus“ in die Hände zu arbeiten.

Sein Österreich-Buch

Friedrich Heers letztes großes Werk, gleichermaßen Bilanz lebenslanger Beschäftigung mit dem Thema und Vermächtnis an die Nachwelt, war der „Kampf um die österreichische Identität“. Auf 562 Seiten mit über zweitausend Anmerkungen und Quellenverweisen, vom Mittelalter bis zum März 1938 reichend, ist hier ein Bild der österreichischen Vergangenheit, ihrer Krisen, Brüche und Irrwege entworfen, das in seiner Art einzig dasteht. Ein leicht und beschaulich zu lesendes Buch ist es nicht. Gleich tosenden Sturzbächen prasseln die Sätze auf einen hernieder. Man muß sich durchbeißen, es sich intellektuell schwer arbeitend, wach und konzentriert aneignen. Ist man dazu bereit, wird man aber wahre Schätze finden, enthalten oft in Nebensätzen und Seitenbemerkungen, die wie ein Blitz das von uns dumpf Geahnte, Gefühlte, noch nicht in Begriffen Gefaßte schlagartig zu klarer und scharfer Einsicht erhellen.
Heer spricht im ersten Satz des Buches die Problematik an: „Es gibt kein geschichtliches Gebilde in Europa, dessen Existenz so sehr mit Identitätsproblemen seiner Mitglieder verbunden ist wie Österreich.“ Er behauptet, daß in den deutschsprachigen Gebieten Österreichs vom 16. bis zum 20. Jahrhundert sich „zwei (in besonderen Krisenzeiten drei, ja vier) politische Religionen, zwei Nationen und zwei (in besonderen Krisenzeiten drei, ja vier) Kulturen“ gegenüberstanden, daß bis 1938/45 in Österreich ein politischer Glaubenskampf tobte, „der die Basis aller Identitätsschwierigkeiten, aller Tragödien in und aus Österreich bildet“. Seine tiefsten Wurzeln sieht Heer in der Gegenreformation, als das habsburgische Herrscherhaus die lutheranischen Rebellen in den Alpenlanden, achtzig, ja oft schon neunzig Prozent der Bevölkerung, mit Feuer und Schwert, Bücherverbrennungen, Zwangbekehrungen in den Schoß der katholischen Kirche zurücktrieb. Für ihn ist die Katastrophe des österreichischen Protestantismus (ein Marxist würde hier sagen: die gescheiterte frühbürgerliche Revolution) das zentrale Trauma unserer Vergangenheit, der Ausgangspunkt der „österreichischen Krankheit“, aller psychischen und leibseelischen Deformationen, des „österreichischen Selbsthasses“. Denn gerade daraus konnte später ein entfesselter Deutschnationalismus seine Kraft beziehen und seine verderbliche Wirkung, den „Glauben an das Heil aus dem evangelischen Deutschland als Retter, als Erlöser“ entfalten. (Die österreichische NSDAP, später der VdU und dessen Nachfolger, die FPÖ, erreichte und erreicht bis heute ihren höchsten Stimmenanteil bei Wahlen in Gegenden, in denen die Zahl der Protestanten vor der gewaltsamen Gegenreformation am größten war.)
Das Auseinanderklaffen, das Schwanken, der erbittert und oft fanatisch ausgetragene Kampf zwischen der „deutschen“ und der „österreichischen“ Orientierung ist jene Achse, um die sich nach Heers Überzeugung die österreichische Geschichte bis 1938/45 drehte. Der Autor nimmt dabei vehement für das Österreichertum Partei, ohne dessen Kardinalschwäche, das Beharren auf der Betonung seiner „deutschen Kulturgemeinschaftszugehörigkeit“, gepaart mit einem engstirnig-konservativen Katholizismus, zu verschweigen. Seine Charakterisierung von Vertretern dieser Linie, eines Lueger, eines Franz Ferdinand, eines Seipel, eines Dollfuß und Schuschnigg ist ebenso interessant wie lehrreich, beim Letztgenannten sogar vernichtend. Schuschniggs Glaube an Deutschland sei tiefer in ihm eingewurzelt, existentiell tragender gewesen als sein „Sekundär-Glaube an Österreich“, deshalb habe er, der im März 1938 „um keinen Preis der Welt deutsches Blut zu vergießen gesonnen“ war, innerlich schon lange zuvor vor Hitler kapituliert.
Leider hat sich Friedrich Heers Meinung, daß die Entwicklung der 2. Republik, der Staatsvertrag und die Neutralitätserklärung von 1955 endlich das Tor für die wahre österreichische Identität, den wahren Lebenssinn unseres Staates geöffnet habe und die Österreicher nun wüßten, was sie seien, eine eigene Nation, nur halb erfüllt. Denn was ist der Beitritt zur EU, das Überbordwerfen elementarer Bestandteile staatlicher Unabhängigkeit und Souveränität, der Ausverkauf der Wirtschaft, die Verächtlichmachung des Neutralitätsstatus, das Drängen in die NATO anderes als eine neuerliche Abkehr vom österreichischen Weg und ein mit dem Wortgeklingel „ökonomischer“ und „sicherheitspolitischer“ Notwendigkeiten verbrämtes Wiederaufgreifen der „deutschen“, auf die dominierende imperialistische Macht Europas ausgerichteten Orientierung?
Gerade deshalb ist Friedrich Heers grandiose Zusammenschau und sein mahnender Verweis darauf, wie schwer, opferreich und blutig die Menschen unseres Landes dafür schon mehrmals büßen mußten, von brennender Gegenwartsbezogenheit. Lebte er noch, hätte er den Einpeitschern der österreichischen Selbstaufgabe die Leviten gelesen und ihnen ein donnerndes „Halt!“ entgegengerufen.

Sein Eindruck als akademischer Lehrer

Beschließen möchte ich die Würdigung dieses Mannes mit persönlichen Erinnerungen. Ich habe ihn während meines Studiums an der Universität Wien von 1963 bis 1968 oft erlebt, seine Vorlesungen im Hörsaal 41 regelmäßig besucht und besitze bis heute die Mitschriften. Er galt als „Exot“ auf dem Boden der etablierten akademischen Lehre und, weil er unorthodoxe Dinge vortrug, als leicht verschroben. Die studentischen Mitglieder der schwarzen Bande des CV - jenes Seilschaftsvereins, ohne dessen Zugehörigkeit das Erklimmen von Machtpositionen und lukrativen Posten in Österreich aussichtslos ist - denunzierten Heer sogar, wenn sie ihn überhaupt zur Kenntnis nahmen, als Wirrkopf und Dampfplauderer. Jedenfalls hatte er auch bei uns Linken den Ruf einer Kuriosität, deren Kollegien man sich nebenbei und zum Zeitvertreib zwischen den wichtigen Pflichtlehrveranstaltungen anhört. Dementsprechend schütter war die Frequenz. In der Regel verloren sich in dem großen Hörsaal nur an die zwanzig Studenten (darunter fast nie Studentinnen). Worüber sprach er? Mein altes Studienbuch zur Hand nehmend, finde ich darin: „Geistige und religiöse Bewegungen vor 1914“ (SS 1964), „Geistesgeschichte des heiligen römischen Reiches“ (WS 1964/65 und SS 1965), „Geschichte des Antisemitismus“ (WS 1965/66 und SS 1966) und „Historische Genesis des österreichischen Katholiken Adolf Hitler“ (WS 1966/67). Dann begann ich an meiner Dissertation zu arbeiten und den Vorlesungsbesuch (nicht nur bei ihm) notgedrungen einzuschränken.
Heer war alles andere denn ein guter, routinierter Universitätslehrer. Klarer Aufbau, Systematik und logische Entwicklung der Gedanken gehörten nicht zu seinen Stärken. Wie in seinen Büchern drangen die Ausführungen in kühnen, sich oftmals verlierenden, passagenweise für den Studenten im zweiten oder dritten Semester kaum nachvollziehbaren Wortkaskaden an unser Ohr. Man spürte förmlich, wie prall und überquellend sein Gehirn mit einem riesigen Wissensstoff erfüllt war. Beim Vortrag hielt er sich eng an das Manuskript und extemporierte kaum. Ich bin überzeugt, daß der Text seiner Vorlesungen der Jahre 1965 bis 1967 wortwörtlich mit dem 1967 erschienen Buch „Gottes erste Liebe. 2000 Jahre Judentum und Christentum. Genesis des österreichischen Katholiken Adolf Hitler“ übereinstimmte. Es waren die Nebensätze, die wie Diamanten funkelten, die uns in ihrer apercuhaften Lakonik und Treffsicherheit aufhorchen ließen.
An zwei erinnere ich mich bis heute. Einmal erzählte er uns, daß das christliche Kreuzzeichen eben nicht, wie man gemeinhin glaubt, den gekreuzigten Jesus Christus symbolisiere, sondern vielmehr das Machtzeichen über die vier Himmelsrichtungen versinnbildliche, Ausdruck des imperialen Ausschließlichkeitsanspruchs dieser Religion sei. Ein anderes Mal kam er auf Papst Pius XII. zu sprechen, dessen Rolle im Zweiten Weltkrieg gerade damals durch Hochhuths Theaterstück „Der Stellvertreter“ im Brennpunkt heftigster öffentlicher Diskussion stand. Unvermutet riß Heer seine Augen vom Vorlesungstext los, blickte uns an und sagte: „Pius XII. - der letzte Papst des 19. Jahrhunderts!“ Und merkwürdig: Wir, noch recht unbedarfte Wissenschaftslehrlinge, wußten im Moment dieser kurzen Zwischenbemerkung, was er damit meinte.

Friedrich Heer, Der Kampf um die österreichische Identität, 2. unveränderte Auflage, Böhlau-Verlag, Wien-Köln-Weimar 1996, ÖS 476.-

Sehr zu empfehlen (wenngleich von einigen Rezensenten wegen der exorbitanten Länge der Originalzitate und der sonstigen Art der Darstellung harsch kritisiert) ist auch das Buch: Evelyn Adunka, Friedrich Heer (1916-1983). Eine intellektuelle Biographie, Tyrolia-Verlag, Innsbruck/Wien 1995, 624 Seiten, ÖS 680.-

Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft, Nr. 3/1996

 

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