Klahr    Alfred Klahr Gesellschaft

Verein zur Erforschung der Geschichte der Arbeiterbewegung

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Hans Hautmann: Über den 12. Februar 1934

Der Februar 1934 nimmt in der Geschichte der Auseinandersetzungen zwischen den Gesellschaftsklassen in Österreich einen besonderen Platz dadurch ein, dass er in der denkbar schärfsten Form, als bewaffneter Kampf, als Bürgerkrieg ausgetragen wurde. Und das ausgerechnet bei uns, in einem Land, das das Image hat, dass sich hier die politischen Auseinandersetzungen grundsätzlich in friedlichen, auf Kompromiss ausgerichteten, konsensgeprägten, sozialpartnerschaftlichen, gemütlichen Formen abspielen. Dieser krasse Widerspruch ruft berechtigterweise die Frage nach den Ursachen hervor; und um sie beantworten zu können, ist es notwendig, auf der einen Seite die Situation der Arbeiterbewegung zu betrachten und auf der anderen Seite die Haltung der herrschenden Klassen des bürgerlichen Lagers, jener beiden Kontrahenten, die im Februar 1934 bewaffnet zusammenstießen.

I.

Möglich wurde die äußerste Zuspitzung in Form des Bürgerkrieges dadurch, dass in Österreich eine sonst nirgends vorhandene Voraussetzung gegeben war: eine bewaffnete Arbeiterschaft, etwas in der Geschichte sehr seltenes und ungewöhnliches. Bewaffnete Arbeiter gibt es ansonsten nur in Perioden revolutionärer Umwälzungen. So war es, als es im Verlauf der revolutionären Welle nach dem Ersten Weltkrieg in einer Reihe europäischer Länder zur Bewaffnung der Werktätigen kam. Während diese jedoch spätestens 1923 allesamt wieder entwaffnet wurden, blieb der Arbeiterschaft in Österreich auch über das Ende der revolutionären Nachkriegskrise hinaus, bis zum Februar 1934, der Besitz an Waffen erhalten. Im April 1923 gründete sich bei uns der „Republikanische Schutzbund“, eine aus den Ordnerschaften des Arbeiterrats und den Arbeiter- und Fabrikswehren der Jahre 1918 und 1919 hervorgegangene proletarische Militärorganisation. Der Schutzbund, der am Höhepunkt seiner Entwicklung, im Jahr 1928, 80.000 Mitglieder hatte, hat seine Angehörigen im Waffengebrauch unterwiesen, er hat an den Wochenenden militärische Übungen durchgeführt und hat in geheimen Depots über eine große Zahl an Infanteriegewehren, Pistolen, Maschinengewehren, selbstgefertigten Handgranaten, Munition sowie über reichliche Mengen an Sprengstoff verfügt. Eine dem Schutzbund vergleichbare bewaffnete Formation besaß die Arbeiterklasse zur selben Zeit in keinem anderen Land der kapitalistischen Welt.
Eine weitere Eigenheit der Situation in Österreich war, dass der proletarische Militärverband des Republikanischen Schutzbundes von einer nichtrevolutionären Partei ins Leben gerufen wurde und dass dessen Angehörige Mitglieder der österreichischen Sozialdemokratie waren. Die Tatsache, dass der Schutzbund von einer Partei geführt wurde, die auf reformistischen, den Maximen der bürgerlichen parlamentarischen Demokratie verpflichteten Positionen stand, hat der Vorgeschichte, dem Ausbruch und dem Verlauf der Februarkämpfe in jeder Hinsicht ihren Stempel aufgedrückt. Für die sozialdemokratischen Führer war der Schutzbund primär ein politisches Druckmittel gegenüber dem bürgerlichen Lager, nicht aber eine Organisation, die offensiv, als Speerspitze eines Kampfes für den Sozialismus in Aktion treten sollte. Die Parteiführung verpflichtete die Arbeiter und Schutzbündler zur Taktik des „Gewehr bei Fuß“, zum Abwarten der Weisungen von oben, was sich angesichts der Politik der dauernden Rückzüge des sozialdemokratischen Parteivorstandes gegenüber den Pressionen der Bundesregierung negativ, geradezu katastrophal auswirkte. Im Legalismus befangen war die Sozialdemokratie unfähig, die Attacken eines Feindes, der ihr den „erprobten“, „normalen“ Boden der bürgerlichen parlamentarischen Demokratie sukzessive unter den Füßen fortzog, mit adäquaten, wirkungsvollen Gegenmethoden zu parieren. Sie gab gegenüber den seit 1927 von Jahr zu Jahr und nach der Ausschaltung des Parlaments durch die Dollfuß-Regierung im März 1933 von Monat zu Monat effektiver werdenden Faschisierungsmaßnahmen eine entscheidende Machtposition nach der anderen kampflos auf. Damit manövrierte sie die österreichische Arbeiterbewegung am 12. Februar 1934 in eine Situation hinein, in der die Aussichten auf eine erfolgreiche Abwehr der faschistischen Offensive nur noch als sehr gering zu veranschlagen waren. Karl Renner, Otto Bauer und andere führende Funktionäre haben bis in die letzten Tage vor den Februarereignissen der Regierung Dollfuß Beschwichtigungsangebote unterbreitet, die die Grenze der Selbstverleugnung der sozialdemokratischen Bewegung als eigenständiger politischer Kraft bereits überschritten. Wäre es also allein nach dem Willen der sozialdemokratischen Führer gegangen, dann hätte ein 12. Februar 1934 in der Form nie stattgefunden.
Dass es zu ihm kam, war das Verdienst jenes klassenbewussten Kerns der österreichischen Arbeiter, der der Stimmung der Resignation widerstand, die durch die dauernden Rückzugsmanöver der Parteiführung hervorgerufen wurde und unter den Werktätigen immer mehr um sich griff. Er gelangte in den Monaten zwischen dem März 1933 und dem Februar 1934 zur Erkenntnis, dass ein wirklicher Kampf gegen die verfassungsbrechende und demokratieaushöhlende Staatsmacht nur dann möglich sein würde, wenn man die Fesseln einer selbstmörderisch gewordenen Parteidisziplin abwarf. Zum Wortführer dieser sozialdemokratischen Linksopposition wurde der oberösterreichische Landesparteisekretär und Schutzbundobmann Richard Bernaschek. Er war es, der am 12. Februar 1934 gegen den Willen Otto Bauers und der anderen sozialdemokratischen Parteiführer das Signal zum Kampf setzte; und wenn nicht er, hätte es in jedem Fall auch ein anderer getan, denn die Überzeugung „Bis hierher und nicht weiter, lieber kämpfend untergehen als kampflos kapitulieren“ war bereits weit verbreitet. Die Februarkämpfe in Österreich sind daher nicht nur als große antifaschistische Abwehraktion, sondern ebenso sehr als Auflehnung klassenbewusster sozialdemokratischer Arbeiter gegen die demoralisierende Rückzugspolitik der eigenen Parteiführung zu sehen, als Akt der Emanzipation von einer reformistischen Politik, die die historische Prüfung in der Auseinandersetzung mit dem Faschismus nicht bestanden und die Arbeiterklasse in eine verzweifelte Situation geführt hatte.

II.

Als logische Folge dieser Entwicklung traten nach dem Februar 1934 der KPÖ, die damals ungefähr 3000 Mitglieder hatte, in wenigen Monaten etwa 13.000 ehemalige Sozialdemokraten bei. Und hier muss etwas über die Bedeutung dieses Vorgangs für die kommunistische Bewegung in Österreich eingeflochten werden.
Wenn wir die Geschichte der KPÖ im Ganzen betrachten, von ihrer Gründung vor 85 Jahren, im November 1918, bis heute, so kommt man nicht umhin festzustellen, dass sie nur ungefähr zwanzig Jahre lang eine größere und wichtige politische Rolle in Österreich gespielt hat. Das waren einerseits die Jahre des Widerstandskampfes gegen den Faschismus grüner und brauner Provenienz, in dem Kommunistinnen und Kommunisten an vorderster Front standen und die größten Opfer brachten, andererseits das erste Jahrzehnt der 2. Republik, in dem die KPÖ über 100.000 Mitglieder hatte, im Nationalrat und anfangs auch in der Regierung vertreten war, starke Positionen in der Betriebsarbeiterschaft besaß, in Landtagen und faktisch allen Gemeinderäten wichtiger Städte und Industrieorte Mandatare sitzen hatte, ein weit verbreitetes Netz an Organisationen besaß, Ausstrahlungskraft hatte auf Bereiche wie Kultur und Sport – mit einem Wort: ein relevanter politischer Faktor in Österreich war. Der Ausgangspunkt für diesen Aufstieg der KPÖ zu einer Kraft mit Massenwirksamkeit, der bis Mitte der fünfziger Jahre anhielt, war eben dieser Februar 1934. Durch ihn wurde die KPÖ unter den Bedingungen der Illegalität mit einem Schlag zu einer Partei, die das erlangte, was sie vorher nicht besaß, nämlich realen Einfluss unter den Arbeitermassen in Österreich – ein Phänomen, das in dieser Form in der Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung einzig dasteht. Denn die KPÖ ist das weltweit einzige Beispiel dafür, dass eine beträchtliche Anzahl von Mitgliedern der sozialdemokratischen Partei plötzlich die Stellung wechselte und sich bei den Kommunisten einreihte – und das aus freiem Entschluss und eigener Erkenntnis heraus. Und der Beitritt dieser ehemaligen Sozialdemokraten war keine vorübergehende Episode, entsprungen aus Gefühlen der Verbitterung, Enttäuschung, Verärgerung, sondern ein bewusster politischer Schritt auf Dauer. Diese ehemaligen sozialdemokratischen Arbeiter und Arbeiterinnen, Schutzbündler, Februarkämpfer waren es, die in der Folge das Rückgrat der Partei bildeten und der kommunistischen Sache über alle Fährnisse hinweg die Treue hielten.
Diese den Februar 1934 begleitenden Vorgänge hatten auch gewaltige Bedeutung für die kommunistische Weltbewegung insgesamt und ihr Verhältnis zur Sozialdemokratie. Es ist richtig, dass die KPÖ die sozialdemokratischen Arbeiter schon Jahre vor den Februarereignissen vor der Entwicklung gewarnt hat und es Warnungen waren, die durch den 12. Februar 1934 bestätigt wurden. Es steht aber auch fest, dass die KPÖ und die Mitglieder der KPÖ an den Kampfhandlungen keinen, und wenn, nur einen kleinen Anteil hatten, dass die Träger des bewaffneten Widerstandes in den Februartagen sozialdemokratische Arbeiter und Schutzbündler waren. Anders konnte es auch gar nicht sein, weil die Kommunisten keinen Zugang zu den Waffenbeständen des Schutzbundes hatten und am 12. Februar, wenn sie mitkämpfen wollten, darauf angewiesen waren, Gewehre vom Schutzbund ausgefolgt zu bekommen. Bei weitem nicht überall ist das geschehen.
Es waren also Sozialdemokraten, die mit der Waffe in der Hand gegen den Austrofaschismus kämpften. Und wichtige Parteiführer wie Otto Bauer und Julius Deutsch haben sich am 12. Februar 1934 so verhalten, dass man ihnen den Vorwurf der Würdelosigkeit und schmählichen Kapitulantentums nicht machen konnte. Das hat entscheidend dazu beigetragen, dass die kommunistische Weltbewegung sektiererische Positionen gegenüber der Sozialdemokratie – Stichwort: Sozialfaschismus – überwand und eine strategische Neuorientierung vollzog, die auf dem VII. Weltkongress der Kommunistischen Internationale 1935 systematisiert wurde. Das hat die Ausstrahlungskraft der kommunistischen Parteien in allen Ländern erhöht, eine Einheitsfront- und Volksfrontpolitik ermöglicht und eine historische Wende im antifaschistischen Kampf der Arbeiterklasse herbeigeführt. In diesem Zusammenhang lenkte der VII. Weltkongress der Komintern und ihr Generalsekretär Georgi Dimitroff die Aufmerksamkeit der österreichischen Kommunisten auf die Notwendigkeit, die nationale Frage als Schlüsselfrage und Haupthebel für eine erfolgreiche Volksfrontpolitik gründlicher als bisher zu studieren. Es war Alfred Klahr, dem das große Verdienst zukommt, aufgrund einer exakten marxistischen Analyse die eigenständige Existenz der österreichischen Nation herausgearbeitet zu haben. Damit konnten dem Kampf für die Unabhängigkeit Österreichs gegenüber dem deutschen Imperialismus schon vor, vor allem aber nach der Okkupation des März 1938 neue und wesentliche Impulse gegeben werden.

III.

Als am frühen Morgen des 12. Februar 1934 sich in Linz Schutzbündler unter der Führung Richard Bernascheks einer Waffensuche der Polizei in der Landesparteizentrale im Hotel Schiff auf der Landstraße bewaffnet entgegenstellten, begann ein vier Tage währender blutiger Bürgerkrieg. Der Kampf stand durch die Schuld und Versäumnisse der sozialdemokratischen Führung von Beginn an unter äußerst ungünstigen Voraussetzungen: Die meisten höheren Schutzbundkommandanten waren schon vorher verhaftet worden, wodurch viele geheime Waffendepots unzugänglich blieben; der unbedingt notwendige Generalstreik der Masse der Werktätigen kam nicht oder nur lückenhaft zustande; das Bundesheer konnte über die Eisenbahn ungehindert ihre Truppen in die Kampfzentren verlegen; wo man sich an den Sammelpunkten bewaffnete, wurde in der Regel der Befehl befolgt, von den Waffen erst dann Gebrauch zu machen, wenn die Exekutive angreifen sollte; diese Orientierung überließ die Initiative dem Gegner, und es gelang deshalb den Aufständischen nirgends, größere geschlossene Verbände zum Angriff zu führen. Trotz dieser denkbar schlechten Umstände lieferten die Arbeiter und Schutzbündler den an Zahl und Ausrüstung überlegenen Regierungsstreitkräften erbitterten Widerstand. Brennpunkte der Kampfhandlungen waren die Arbeiterbezirke Wiens, in Oberösterreich Linz, Steyr und das Kohlenrevier des Hausruckviertels, in der Steiermark die Vororte von Graz und das obersteirische Industriegebiet mit Bruck an der Mur.

IV.

Der eigentlich entscheidende Faktor, der im Februar 1934 die äußerste Zuspitzung bis zum bewaffneten Kampf, bis zum Bürgerkrieg herbeiführte, war aber der absolute Vernichtungswille der herrschenden Klasse, der österreichischen Großbourgeoisie. In dem Zusammenhang kann man oft die Redewendung hören: diese scharfe, unerbittliche Haltung sei doch nur ein Resultat und eine Antwort auf die Radikalität der Sozialdemokratie gewesen, die mit der Losung von der Diktatur des Proletariats, formuliert im Linzer Programm von 1926 das Bürgertum so bedroht und erschreckt hat. Ausdruck findet diese Argumentation in der These von der „geteilten Schuld“, die immer noch im Schwange ist. Es ist das eine Kritik von rechts, die dem konträr entgegensteht, was an Schuld und Versäumnissen der Sozialdemokratie tatsächlich zur Last gelegt werden kann und von denen einige angesprochen wurden. Folgt man ihr, dann hat das zur Konsequenz, dass sich unterdrückte Schichten prinzipiell nicht zur Wehr setzen dürfen, weil das Gegenreaktionen der Herrschenden hervorruft und damit katastrophale, blutige Entwicklungen eintreten. Eine solche Argumentation ist dazu angetan, die Niederhaltungsmethoden der Herrschenden in der Geschichte prinzipiell zu beschönigen und zu rechtfertigen. In Wahrheit war bei der österreichischen Bourgeoisie der Vernichtungswille vom ersten Moment der 1. Republik an, seit dem November 1918, vorhanden. Er war nur deshalb zeitweise verdeckt, weil es dazu an Kräften und Möglichkeiten mangelte. Als diese endlich zur Verfügung standen und auch auf internationaler Ebene die Zeit des Aufwinds des Faschismus begonnen hatte, war von irgendwelchen auf friedlichen Konsens und Kompromiss abzielenden Haltungen und bürgerlich-zivilisierten Umgangsformen nichts mehr zu bemerken.

V.

Führen wir zwei Beispiele an. Im Heft der „Fackel“ mit dem Titel „Der Hort der Republik“, das die Ereignisse des 15. Juli 1927 in Wien behandelt, zitiert Karl Kraus eine Äußerung des damaligen Präsidenten der Journalistenvereinigung „Concordia“, Dr. Edmund Wengraf, veröffentlicht im bürgerlichen „Neuen Wiener Journal“. Wengraf schrieb:
„Was ist denn nun aber eigentlich diese Ordnung, für die wir mit Treue und Opfermut und angeblich auch mit ‚Bestialität' einstehen? Sie ist für die große Mehrzahl der Menschen im Grunde eine recht geringfügige Sache: ein klein wenig Hab und Gut, kaum der Rede wert, in Wertziffern ausgedrückt meist eine Bagatellsumme; dazu eine Anzahl von Freundschafts-, Familien- und Geschäftsverbindungen, in die wir seit so und so viel Jahren eingesponnen sind; ein bescheidenes Maß von Erwerbssicherheit und von Lebensgewohnheiten, die damit zusammenhängen (...) Unser Stück Welt, auf dem wir leben und sterben wollen (...) Das ist unsere Ordnung! Und gegen jeden Versuch, sie uns zu rauben, wollen wir uns wehren, bis aufs Äußerste, wenn’s sein muss, auch bis zur Bestialität“.1
Der Publizist „Sozius“ (Eli Rubin) brachte 1930 eine Broschüre mit dem Titel „Lenin in Wien“ heraus, in der folgende Passagen zu finden sind: S. 3: „Die asiatische Pest des Marxismus hat Österreich ergriffen (...) Asiatische Gehirne haben einen wüsten Götzendienst aus Menschenhass und Gier ausgebrütet, wie aus beklemmend riechenden Opiumhöhlen dunstet Übles aus dem Raubburgen (Sozius meinte die Gemeindebauten des Roten Wien, H.H.) des österreichischen Marxismus“; S. 9: In Wien „türmen sich, zyklopenhaft aufgeschichtet, die Würfelkolosse der marxistischen Wohnbauten, zumeist blutigrot, dunkelrot wie frisch vergossenes Blut (...) Diese ganze Stadt ist eine einzige furchtbare Festung!“; S. 11: Wien ist das „Bollwerk der sozialistischen Internationale“, eine „Rote Festung, die an Bedrohlichkeit für Europa das ferne Leningrad, das entlegene Moskau weit in den Schatten stellt“; die „Österreichische Rote Armee“ (Sozius meint den Republikanischen Schutzbund, H.H.) will Staatsgewalt, Bürger- und Bauerntum „vernichten“, ihr „Feldruf“ lautet: „Alle Macht den Räten!“; S. 60: In Österreich fehle deshalb eine starke kommunistische Partei, weil die „so genannten Sozialdemokraten“ Österreichs in der Praxis „radikaler, konsequenter und fast brutaler sind als die russischen Bolschewiken“.
So geht es über 76 Seiten bis zu folgendem Schluss: „Der einzige Machtfaktor in Österreich, der sich aktiv dieser bolschewistischen Lawine entgegenstellt, ist die österreichische Heimwehr, geführt von Dr. Richard Steidle und Dr. Pfrimer. Die österreichische Heimwehr kämpft, wie die Dinge liegen, nicht nur für Österreich, sie verteidigt die Kultur Europas“.2

VI.

Vier Jahre später zeigte sich, wie man die Kultur Europas verteidigte. Der bewaffnete Arm der bürgerlichen Staatsmacht, das Bundesheer, die Polizei, die Gendarmerie und die als Hilfstruppe eingesetzten austrofaschistischen Heimwehren gingen im Februar 1934 gegen die Arbeiter mit äußerster Härte und Brutalität vor. Die Wohnhäuser der Arbeiter in Wien, Linz, Steyr, Bruck an der Mur standen unter stunden-, oft tagelangen Artilleriebeschuss, der auch Frauen und Kinder in Mitleidenschaft zog. Auf die Wiener Gemeindebauten sind im Verlauf der drei Kampftage nicht weniger als 613 Granaten abgefeuert worden, die schwere Schäden anrichteten. In Holzleiten im Hausruck sind sechs an den Kämpfen unbeteiligte Arbeitersanitäter auf die Bühne des Arbeiterheims getrieben und von einem Peloton des Bundesheeres niedergeschossen worden. Gefallene Schutzbündler ließ man zur Abschreckung tagelang auf den Straßen liegen. Gefangengenommene Arbeiter wurden von Heimwehrlern und Polizisten oft halbtot geprügelt. Im standrechtlichen Verfahren wurden vom 14. bis zum 21. Februar 1934 21 Todesurteile verhängt und an neun Personen durch Erhängen vollstreckt. Einer davon, der Wiener Schutzbündler Karl Münichreiter, der der Exekutive schwerverletzt in die Hände gefallen war, wurde auf einer Tragbahre zum Galgen geschleppt und gehenkt. Über 10.000 Februarkämpfer, Schutzbündler und Arbeiterfunktionäre wurden verhaftet; von diesen hat man 1200 Personen zu schweren Kerkerstrafen in der Höhe von 1400 Jahren verurteilt. Die zivilisierte Welt war starr vor Erstaunen und Entsetzen, was im Land der angeblichen Walzerseligkeit und Heurigenverbrüderungsstimmung möglich war. 
Zu solchen Exzessen waren die Herrschenden bei uns vor siebzig Jahren fähig, und nach ihrem Sieg errichteten sie eine autoritär-faschistische ständestaatliche Diktatur, in der ihr Wesen zum Ausdruck kam. Den Februar 1934 und die Diktatur der Jahre 1934 bis 1938 kann die österreichische Bourgeoisie nicht auf andere, auf Hitler und die Nationalsozialisten abwälzen, wie man es mit der „Opferthese“ für die Zeit der deutschen Besetzung getan hat und tut. Beide waren das ureigenste Produkt der spezifisch österreichisch-katholisch-donaukonföderationsorientierten- monarchie- und habsburgnostalgischen Kreise des Kapitals bei uns, und die Ära des Ständestaates war die einzige Periode im Rahmen der österreichischen Geschichte, in der es diesen Kreisen gelang, ihre unumschränkte Alleinherrschaft zu erlangen und auszuüben. Das Resultat hat auch danach ausgesehen.

VII.

Hat uns der Februar 1934 auch heute noch etwas zu sagen und uns Erfahrungen zu vermitteln? Ich glaube, ja. Die Geschichte ist keine Einbahnstraße, auch nicht nach dem Sieg des Weltkapitalismus über das sozialistische Staatensystem vor vierzehn Jahren, sondern eine Ebbe-und-Flut-Bewegung, eine Abfolge von Siegen und Niederlagen, Defensiven und Offensiven. Die Bedeutung des 12. Februar 1934 heute, in der für die Linke so misslichen Situation, besteht darin, dass durch die Niederlage, die damals die österreichische Arbeiterbewegung erlitt, der letztliche Sieg bereits durchschimmerte. Durch diesen Kampf wurde der Welt gezeigt, dass der Faschismus und die Reaktion bei ihrem Vormarsch nicht darauf hoffen durften, überall auf Kapitulationsbereitschaft und ein resignatives Streichen der Segel zu stoßen. Denn trotz der Niederlage erfüllte sich die Erwartung der Dollfuß- und Schuschnigg-Regierung, dass breite Arbeiterschichten aus Enttäuschung und Verzweiflung in Passivität verfallen würden, nicht. Im Gegenteil: gerade dadurch, dass die Februarereignisse bewiesen, dass es eine Alternative gegen die kampflose Kapitulation vor reaktionären Anschlägen gibt, wurde in Österreich und weit über Österreich hinaus neuer Mut in die Reihen der Arbeiterklasse getragen und ihre Entschlossenheit zur antifaschistischen Gegenwehr gestärkt. Der Februar 1934, der zu den besten revolutionär-demokratischen Traditionen des österreichischen Volkes gehört, stellt daher einen Wendepunkt in der Entwicklung der internationalen Arbeiterbewegung dar. Er wurde zum Vorboten des nationalrevolutionären Krieges in Spanien 1936 bis 1939 und des Kampfes der Völker gegen den Faschismus im Zweiten Weltkrieg, der mit dessen völliger Niederlage endete.

Anmerkungen
1/ Die Fackel, Nr. 766-770, Wien, Oktober 1927, S. 8
2/ Sozius, Lenin in Wien = Wiener Volksschriften, Nr. 4, Wien 1930

Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft, Nr. 1/2004

 

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