Klahr    Alfred Klahr Gesellschaft

Verein zur Erforschung der Geschichte der Arbeiterbewegung

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Peter Goller: Helene Bauer gegen die neoliberal bürgerliche Ideologie von Ludwig Mises (1923)

Helene Bauer (1871–1942), die als geborene Gumplowicz 1894/95 an der Universität Zürich inskribiert war, dort 1905 als damalige Helene Landau-Gumplowicz mit einer Dissertation „Die Entwicklung des Warenhandels in Österreich“ promoviert worden war, (vgl. U. Helfenstein: Zürcher Universitätsmatrikel online, Nr. 10388 und 10729) arbeitete zeitlebens wissenschaftlich in der Arbeiterbildung von Gewerkschaft und SDAP.
So ist auch Helene Bauers Abhandlung 1923 in der von Arbeiterkammer, Gewerkschaftskommission und von den Betriebsräten Österreichs herausgegebenen Zeitschrift „Arbeit und Wirtschaft“ (1923 bis zum Feber 1934 erschienen) zu verstehen, die ihrer Gegenwartsrelevanz wegen im Anhang abgedruckt wird!
Wie Rosa Luxemburg – diese war in Zürich schon 1897 mit einer Studie über die Entwicklung des Kapitalismus in Polen promoviert worden – war auch Helene Bauer in der polnischen Sozialdemokratie aktiv. Mit der marxistischen Theorie, mit der fortschrittlichen „wissenschaftlichen Weltauffassung“ vertraut galt Helene Bauers Hauptaugenmerk dem sozialistischen Befreiungskampf im Umfeld der österreichischen Sozialdemokratie, im Umfeld des „Roten Wien“. Jahrelang bis zum Verbot 1934 war sie Redakteurin des theoretischen Organs der Sozialdemokratie, „Der Kampf“. (H. Bauers dortige Aufsätze sind vollständig verzeichnet worden von Gottfried Hatzl: Gesamtregister für die Bände 1 bis 27 [Wien 1907–1934] der Zeitschrift „Der Kampf. Sozialdemokratische Monatsschrift“, Wien 1977, 8.)
Von 1926 bis 1934 unterrichtete Bauer Statistik an der Wiener Arbeiter-Hochschule, u.a.m. 1934 flüchtete sie nach dem „Wiener Februar“ mit ihrem Mann Otto Bauer nach Brünn, 1938 nach Frankreich, um drei Jahre nach Otto Bauers Tod 1941 noch über Schweden in die USA zu emigrieren. (Vgl. zur Biographie den Helene Bauer vom angeblichen Ruch der „Parteipublizistik“ befreienden, in den offenkundig ansehnlich scheinenden Rang der empirischen Sozialwissenschaftlerin anheben wollenden Artikel von Johann Dvorák: Helene Bauer, geb. Gumplowicz, in: Wissenschafterinnen in und aus Österreich, hg.v. Brigitta Keintzel u. Ilse Korotin, Wien-Köln-Weimar 2002, 42–48.)
In den Jahren des Inflations- und Sanierungselends der frühen 1920er Jahre widmete sich Helene Bauer exponiert der Kritik der bürgerlichen Nationalökonomie in der Periode des Aufstiegs der Arbeiterklasse nach 1848. 1922 verfasste sie eine Polemik gegen Othmar Spanns von ständestaatlich autoritärem Denken geprägte „universalistische Volkswirtschaftslehre im Geiste Adam Müllers“. (Vgl. Helene Bauer: Herrn Othmar Spanns Tischlein-deck’-dich, in: Der Kampf 15 (1922), 178–182.) Helene Bauer, die übrigens auch die „Geldkritik“ und „Großnaturalwirtschaft“ des wissenschaftlich und politisch verbündeten, vormaligen Münchner Räterepublikaners Otto Neurath ablehnte, (Vgl. Helene Bauer: Geld, Sozialismus und Otto Neurath, in: Der Kampf 16 (1923), 195–202.) widmete ihre Hauptkritik aber der Auseinandersetzung mit der (Wiener) „Grenzwerttheorie“, dabei die „Klassiker“ Smith, Ricardo, deren „Arbeitswerttheorie“ verteidigend. Die offen „malthusianische“ Apologetik der bürgerlichen Klassendifferenzen konnte angesichts der erstarkten Arbeiterbewegung aber nicht mehr aufrechterhalten werden: „Nun verging dem Bürgertum (ab ca. 1848 – Anm.) die Freude an dem wissenschaftlichen Nachlass Smiths und Ricardos, der von Marx und Engels übernommen und kritisch weiterentwickelt wurde. Die bürgerliche Wissenschaft rückte von der Arbeitswertlehre immer weiter ab, um schließlich unter dem Lawinensturz historischer und deskriptiver Detailarbeiten jedes Forschen nach den gesellschaftlichen Quellen des Privatprofits zu begraben.“ Die historische Schule mit ihrer Flucht aus der nationalökonomischen Theorie hatte ihre Schuldigkeit – so Helene Bauer – in dem Moment getan, als mit der subjektiven Grenznutzentheorie der Wiener Karl Menger, Eugen Böhm-Bawerk, Friedrich Wieser, des Franzosen Léon Walras oder des Amerikaners William St. Jevons ab den 1870er Jahren sukzessive die „Entthronung der Arbeit“ und damit ein theoretisches Wiedergutmachen der „Fehler der Klassiker“ möglich schien: Die subjektive Wertlehre „stellt den einzelnen, den von der Gemeinschaft losgelösten und dadurch historisch unbestimmbaren ‚isolierten Wirt’, einem jeweils gegebenen Gütervorrat gegenüber.“ Für eine in die soziale Defensive geratene Bourgeoisie – bedrängt von sozialen Kämpfen – wurde der Grenzwert bald das beste akademisch-universitäre „Gegengift gegen den Marxismus“. (Vgl. Helene Bauer: Bankerott der Grenzwerttheorie, in: Der Kampf 17 (1924), 105–113. – Vgl. auch die Erinnerungen von Käthe Leichter, in: Herbert Steiner (Hrg.): Leben, Werk und Sterben einer österreichischen Sozialdemokratin, Wien 1997, 357–360.)
Die erste Generation der Wiener Grenznutzenschule war soeben abgetreten, als Ludwig Mises (1881–1973) mitten in die österreichische „Sanierungskrise“ hinein 1922 vom bürgerlichen Feuilleton bejubelt mit seiner neoliberalen Kritik der sozialistischen „Gemeinwirtschaft“ die politische Stoßrichtung gegen die Arbeiterbewegung offen legte. Ludwig Mises’ Apologetik des Kapitalismus lautete auf eine Kurzformel gebracht: Weg mit den politischen Parteien des Sozialismus, weg mit den Gewerkschaften! (Vgl. Ludwig von Mises: Die Gemeinwirtschaft. Untersuchungen über den Sozialismus, 1. Auflage 1922, hier zitiert nach der zweiten, umgearbeiteten Auflage: Jena 1932, im folgenden Kurzzitat: Mises 1932)
Helene Bauer widerlegte 1923 Mises’ Bild eines liberalen, rationalen, den allgemeinen gesellschaftlichen Reichtum unaufhaltsam mehrenden Konkurrenzkapitalismus, der nur von außen durch sozialistische „Heilslehren“, durch marxistischen „Chiliasmus“ gehemmt wird. Mises’ soziologische Dogmen beruhen auf geschichtlich fingierten Prämissen, indem er an eine liberale, von einer utilitaristischen Ethik getragene Harmonie glaubt: Kein Krieg, kein Imperialismus, keine Gewalt trübt die ideale Mises’sche Welt des harmonischen Freihandels. Vermutungen über einen Zusammenhang von kapitalistischer Entwicklung und imperialistischem Weltkrieg weist Mises zurück.
Helene Bauer beobachtet, wie sich Ludwig Mises zum einsamen Rufer in einer angeblich sozialistischen Wüste hochstilisiert, in der selbst die bürgerliche Wissenschaft, der „Kathedersozialismus“ also, vom sozialistischen, Kultur gefährdenden „Destruktionismus“ unterwandert ist. In seiner Kritik der „Gemeinwirtschaft“ klagte Mises 1922, dass die Ideen der Arbeiterbewegung in das Herz der besitzenden Klassen, in die nur scheinbar „antimarxistische“ Wissenschaft – z.B. in das Werk Werner Sombarts – eingedrungen sind. Nur Menger, Böhm-Bawerk, usw. haben für Mises den Marxismus theoretisch bekämpft, der deutsche „Antimarxismus“ hingegen hat sich kapitulierend auf die politische Kritik beschränkt, dabei das „Ressentiment gegen den Kapitalismus“ mit Marx und Engels teilend. (Vgl. Ludwig Mises: Antimarximus, in: Weltwirtschaftliches Archiv 21 (1925), 266–293)
Helene Bauer fasste Mises’ Sozialismus-Kritik so zusammen: Der Sozialismus beruht auf dem Neid und Ressentiment der (aufgehetzten) Massen. Mises’ ewige Grundthese lautet: Es gibt keine Wirtschaftsrechnung jenseits des Privateigentums, jenseits der Geldrechnung, jenseits des Privateigentums an Produktionsmitteln also kein sozialistisches Wirtschaften: „Ohne Wirtschaftsrechnung keine Wirtschaft! (Vgl. Mises 1932, 32–36.)
Vom Standpunkt des Neoliberalismus rückt Mises die Organisationen der Arbeiterklasse in ein kriminelles Licht. Mises plädierte für die politische Liquidierung der Arbeiterbewegung, er agitierte für den Sozialabbau: Mises hatte bereits den Kampf um den gesetzlichen Arbeiterschutz, um die Beschränkung der Arbeitszeit zu den Mitteln sozialistischen „Destruktionismus“ gezählt. Mises scheute sich auch nicht, die Sozialversicherung als Quelle neuer „Volkskrankheiten“, des „Simulantentums“ abzuwerten. So überrascht es nicht, daß Mises in der Arbeiterkoalition, in der Arbeitslosenversicherung nur den gewerkschaftlichen Hebel sieht, die Arbeitskraft nicht zu einem noch niedrigeren Lohn verkaufen zu müssen.
Die wichtigsten Instrumente des sozialistischen „Destruktionismus“, der Arbeiterverein, die Gewerkschaft werden nach Mises hinter der schönen Terminologie von „Koalitionsfreiheit“ und „Streikrecht“ verborgen. In Wirklichkeit handle es sich bei der gewerkschaftlichen Macht um „Koalitionszwang“ und „Streikzwang“. Die Gewerkschaften üben nach Mises gewalttätigen „Landzwang“ aus, verhängen „Interdikte über ganze Landstriche und Länder“, zerstören Betriebsanlagen, neigen zum „Blutvergießen“, kurz die Gewerkschaften sind ihm wahre Terrororganisationen. Konform mit der präfaschistisch bürgerlichen Forderung nach Ausschaltung der politischen und gewerkschaftlichen Organisationen der Arbeiterklasse zeichnet Mises ein Zerrbild vom „Koalitionszwang“ als einer „furchtbaren Vergewaltigung der persönlichen Freiheit des Einzelnen“. Mises ruft nach der politischen und wissenschaftlichen Verteidigung des Streikbrechers. Mises scheute sich in den 1920er Jahren nicht einmal, den Bürgerkrieg gegen die Gewerkschaften in den Raum zu stellen. (Vgl. Mises 1932, 440–450.)
Die soziale Reformpolitik des „Roten Wien“ beruhte für den jeden historischen Zusammenhang von Massenhunger 1918, Massenarbeitslosigkeit ignorierenden Mises nur „auf ihrem Terrorapparat“. Die Existenz reaktionär-bürgerlicher „Selbstschutzverbände“ war für Mises legitim. (Vgl. Ludwig Mises: Erinnerungen, mit einer Einleitung von Friedrich August Hayek, Stuttgart-New York 1978, 47–49, 57–59.)
1924, ein Jahr nach Helene Bauer, hat der damals in Aachen lehrende Alfred Meusel (1896–1960), späterer Mitbegründer der DDR-Geschichtswissenschaft, in der von Rudolf Hilferding herausgegebenen deutschen sozialdemokratischen Theoriezeitschrift „Gesellschaft“ den ideologischen Schein „bürgerlicher Sozialkritik“ in ähnlicher Weise am Beispiel des Neoliberalismus von Ludwig Mises und am Beispiel des „neoromantischen“ Universalismus von Othmar Spann (1878–1950) angegriffen: Mises der „Manchestermann“, „der alles Heil der Gesellschaft von der Rückkehr zu den Grundsätzen des Laissez-faire erwartet“, während sich Spann die Stabilisierung des Kapitalismus, des „Unternehmer-Geists“ von einer „universalistischen“ Ständestaatsideologie, einer „völkischen Gemeinschaftskultur“ erwartete. Spann und Mises waren also Gegner in fast allem („Individualismus wider Universalismus“), in der Grundfrage der „unbedingten Ablehnung“ des Marxismus, des Sozialismus insgesamt waren sie einer Meinung. (Vgl. Adolf Meusel: Zur bürgerlichen Sozialkritik der Gegenwart I. Der Neu-Liberalismus (Ludwig Mises), in: Die Gesellschaft 1 (1924), 372–383. – Vgl. Peter Goller: Alfred Meusel als Kritiker von Ludwig Mises und Othmar Spann. Gegen „Neoliberalismus“ und „Neoromantik“, in: Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft [Wien 2/2003])

Anhang

Helene Bauer: Die Interessenharmonie, der „gemeine Mann“ und ein besserer Herr

(in: Arbeit und Wirtschaft. Organ der Gewerkschaftskommission, Arbeiterkammern und Betriebsräte Österreichs 1 [1923], 589–592)

„Wenn jemand glaubt, daß die Befriedigung der Sonderwünsche seines persönlichen Geschmacks die Mehrkosten, die für ihn daraus gegenüber der Befriedigung durch die uniformen Erzeugnisse aufwiegt, dann kann man ihm nicht objektiv beweisen, daß er im Unrecht ist … Wenn mein Freund es vorzieht, sich so zu kleiden, so zu wohnen und so zu essen, wie es ihm gefällt, und nicht das zu machen, was jedermann tut, dann kann man ihn darum nicht tadeln … Wenn er seine Wohnung nach seinem persönlichen Geschmack einrichten will und nicht nach dem des Möbelfabrikanten, so kann man ihn mit Gründen nicht widerlegen …“ Das Verständnis, das Herr Dr. [Ludwig] Mises in dem dicken Buche „Die Gemeinwirtschaft“ den Sonderwünschen seines Freundes entgegenbringt, lässt vermuten, daß er auch die Frau des Freundes, die sich sicher gern in kostbare Pelze und fließende, mit Juwelen zusammengehaltene Seide hüllt darum nicht tadelt. Denn die Glückseligkeit liegt „eben in der Befriedigung seiner Wünsche“ und der Herr Mises als Vertreter der Lustethik ist für die Glückseligkeit seiner Freunde und findet, daß die kapitalistische Wirtschaft, in der sich sein Freund seine Wohnung und seine Tafel nach eigenem Geschmack einrichten kann, die beste, die einzig mögliche Wirtschaftsordnung sei.
Wer sich’s leisten kann, der genieße, meint der liberale Herr Mises, und um den fröhlichen Genuß der Reichen nicht länger gestört zu wissen durch die bösen Miasmen des Zweifels an der moralischen Berechtigung ihrer gehobenen Lebensweise, des Zweifels, der aus der durch sozialistische Gedankengänge vergifteten Atmosphäre des öffentlichen Lebens bis zum Kontor des Kapitalsmagnaten und dem Boudoir seiner Ehefrau dringt, will er nun beweisen, daß der Sozialismus eine durchaus unrationelle Wirtschaftsform wäre! Findet man jetzt nirgends die grundsätzliche Gegnerschaft gegen den Sozialismus, den Wagemut, froh und frei für das Sondereigentum an den Produktionsmitteln einzutreten, nur beim Herrn Mises soll man sie finden, gepaart obendrein noch mit den dazu notwendigen philosophischen und ökonomischen „Gesichtspunkten“. Er fordert nun den Sozialismus in die Schranken und der Kampf soll mit den „Waffen des Geistes“ geführt werden.
Der Geist äußert sich zuerst als der eines homerischen Helden. Der Gegner wird mit Schimpfworten empfangen. Der Sozialismus ist nichts anderes als „Rationalisierung der kleinlichen Ressentiments“, als eine Heilslehre, „ die das Toben der niedrigen Neid- und Racheinstinkte zur Erfüllung einer weltgeschichtlichen Sendung verklärt“ und ihre Schlüsse zieht „aus den krausen Gedankengängen eines abstrusen Systems“. Der Gegner soll durch Drohungen eingeschüchtert werden. „Alle Bestrebungen, den Sozialismus zu verwirklichen, führen nur zur Zerstörung der Gesellschaft ... Die Bevölkerung der Industriegebiete wird aussterben oder auswandern …Wieder können Nomadenstämme aus den Steppen des Ostens auf schnellen Rossen Europa plündernd durchstreifen, wer sollte ihnen im dünn bevölkerten Land Widerstand leisten können, wenn einmal die von der höheren Technik des Kapitalismus ererbten Waffen abgenützt sein werden?“ (Seite 498)
Wem jedoch vor der Wehrlosigkeit des dünn bevölkerten Europa und den Nomaden auf schnellen Rossen weniger graust als vor dem Kapitalismus, wer seine Neid- und Racheinstinkte auch angesichts dieser Gefahren nicht zurückzustellen vermag, dem wird der Schreckensnamen Malthus and die Wand gemalt. Umsonst will er sein Gewissen beruhigen durch die Erfahrung, daß bei steigender Kultur und zunehmendem Wohlstand sich das Wachstum der Bevölkerung verlangsame; denn schonungslos hält ihm sogleich Mises entgegen, daß dies nur bei Sondereigentum gelte, daß „jede Veranlassung, sich der Zeugung zu enthalten, in dem Augenblick fortfällt, in dem die Gründung der Familie ohne wirtschaftliche Opfer erfolgen kann, weil der Unterhalt der Kinder der Gesellschaft obliegt“. (Seite 187) So birgt die sozialistische Zukunft in ihrem Schoße zwei gleich unheilvolle Möglichkeiten: Überbevölkerung mit gesetzlichen Eingriffen in die Gebärfreiheit und Verödung früherer blühender Kulturstätten. Wähle jeder, was ihm schlimmer erscheint!
Aber es muß ja nicht so weit kommen. Die Gesellschaft ist nach Mises ein Erzeugnis des Willens und der Tat und schmiedet selber ihre Zukunft. Sie nähert sich dem Sozialismus, weil die große Mehrheit es will, weil die große Mehrheit den Sozialismus für eine den höheren Wohlstand erzeugende Gesellschaftsordnung betrachtet. Und „tritt in dieser Auffassung ein Wandel ein, dann ist es um den Sozialismus geschehen“.
Um diesen Wandel herbeizuführen – bekanntlich unterziehen sich alljährlich dieser Aufgabe recht viele Dozenten – untersucht Mises kritisch die ökonomische Struktur aller erdenklichen sozialistischen und pseudosozialistischen Ordnungen und findet sie immer unvereinbar mit einer rationellen Wirtschaftsführung. Es fehlt die Kostenrechnung, es fehlt der Verteilungsmaßstab! Statt der wunderbaren Ordnung, in der der Kapitalist dem Arbeiter kargen Lohn „zurechnet“ und für die „Leistung der Maschinen“, deren Konstruktion ihm meistens fremd ist, für die „Leistung des Bodens“, den er nicht einmal von Unkraut zu reinigen verstünde, das heißt für die von den Grenznützlern erfundenen „produktiven Beiträge der sachlichen Faktoren“ sich selber die Taschen voll stopft, würde der Sozialismus eine „Verteilungsweise setzen, die keinem Eigentümer oder Unternehmer eine von den andern Volksgenossen grundsätzlich verschiedene Stellung einräumt“, ja, in denen die „Anteile“, die auf die Maschine und den Boden entfallen, gar nicht ermittelt werden könnten! Da jedoch für jeden richtig gehenden Bourgeois die „grundsätzlich verschiedene Stellung der Eigentümer und Unternehmer“, der Freund also mit der nach eigenem Geschmack eingerichteten Wohnung und Tafel zum Weltbild gehört und deswegen in der Kalkulation der Profite der einzige Sinn des wirtschaftlichen Handelns erkannt werden kann, ist für ihn die nach Bedarfsdeckung orientierte Gemeinwirtschaft unverständlich. Und ganz folgerichtig sieht auch Mises im Sozialismus nur „das sinnlose Gebaren eines vernunftlosen Apparats“. (Seite 107). Wem Profit, Vernunft, dem ist natürlich Profitlosigkeit Unvernunft!
Als echter Mann der Wissenschaft lässt sich Mises bei seiner Wanderung in den unseligen Gefilden des Sozialismus immer von der ökonomischen Theorie begleiten. Wenn er die sozialistische Verteilung verwirft und in der kapitalistischen die Gewähr sieht, daß jedem Verdienst sein Lohn wird, so tut er das nicht aus eigener Willkür, sondern im Namen der Lehrmeinung, die er vertritt. Die bürgerlichen Vertreter der Volkswirtschaftslehre sind zwar untereinander über die Bestimmungsgründe der kapitalistischen Verteilung gar nicht einig; aber wie verschieden auch ihre Meinungen sein mögen, auf was für Umwegen immer sie zu ihren Lösungen des „Zurechnungsproblems“ gelangen, eine Übereinstimmung ist in ihren komplizierten Ausführungen immer gegeben. Wie auch der Kapitalist dem Arbeiter den Lohn und sich den Zins „zurechnet“, ob nach Böhm-Bawerk, nach Schumpeter, nach Clark oder nach Wieser, immer trifft er das Richtige. Gerade das, war er zahlt, und gerade das, was er einsteckt, entspricht der Leistung des Arbeiters, der Maschine und des Bodens, für welch letztere er als bevollmächtigter Vertreter die Rechung vorweist. Mises, vor dessen wissenschaftlicher Strenge kein sozialistisches Verteilungssystem standhält, gibt sich mit dem unfertigen Zustand der bürgerlichen Zurechnungslehre zufrieden. Die Ergebnisse der Lehre genügen ihm hier vollkommen, um die Überlegenheit der kapitalistischen Verteilung festzustellen. Dieses System ist unübertrefflich, einzig möglich Es stellt sich doch hier „der natürliche Lohn in einer solchen Höhe fest, daß dem Arbeiter der Ertrag seiner Arbeit, das heißt alles, was der Arbeit zugerechnet wird, zukommt“ ... Und daß dieser „natürliche Lohn“, also alles, was der Kapitalist der Arbeit zurechnet, dem Arbeiter nicht erlaubt, sich so zu kleiden, so zu wohnen und so zu essen, wie es ihm gefällt, daß es nicht nur nicht zur Befriedigung der Sonderwünsche des persönlichen Geschmacks, sondern nicht einmal zum Ankauf uniformer Massenartikel in genügender Menge hinreicht, das liegt eben in der Natur dieses natürlichen Lohnes. Die Glückseligkeit, die in der Befriedigung der eigenen Wünsche liegt, ist ein ethisches Prinzip nur für Freunde, dem Arbeiter, der „eigene Wünsche“ hat, versucht Mises objektiv zu beweisen, daß er im Unrecht ist. Die Schranken des „natürlichen Lohnes“ dürfen nicht überschritten werden, mögen sie auch zur Befriedigung der Lustgefühle viel zu eng gezogen sein. Nur böser Neid kann sie sprengen wollen und nur aus der traurigen Tatsache, „daß auch heute noch der gemeine Mann dazu neigt, den Staat als eine Rentenquelle zu betrachten, aus der er möglichst viel Einkommen ziehen will“ (Seite 61) und daß er „dem arbeitslosen Einkommen abhold ist, sofern es ein anderer und nicht er selbst bezieht“ (Seite 257), vermag sich der Herr Mises die Unzufriedenheit des gemeinen Mannes mit dem Bestehenden zu erklären.
Der Sozialismus ist aber nicht nur ein Ausblick in eine trostlose Zukunft; indem er die wirtschaftlichen Kräfte durch Bindungen zu stören sucht, wird er jetzt schon zur Ursache der Verarmung. Zum Kapitalismus gehört volle Freiheit des wirtschaftlichen Handelns, gehört der freie Wettbewerb. Im freien Wettbewerb entwickelt der Kapitalismus die produktiven Kräfte, im Wettbewerb schafft er den Reichtum der Märkte, im Wettbewerb stellt er jeden Mann an den richtigen Platz. Mit dem Wegfall der Zunftschranken „kann“ ein jeder reich werden, wenn er sich an dem allgemeinen Wettbewerb beteiligt. Aber „allen diesen Erfahrungen und Tatsachen zum Trotz sucht der Arbeiter sein Heil in der Vereinigung mit den anderen Arbeitern“. (Seite 401)
Die marxistische Lehre von der Identität der Interessen aller Proletarier trägt die Schuld daran, daß der Arbeiter, statt nach kapitalistischem Prinzip durch Unterbietung seiner Arbeitsgenossen Käufer zu suchen und durch Verlängerung der Tagesarbeit größeren Absatz zu erzielen, statt also den Weg zu gehen, der die Reichen reicher werden läßt, die Gebundenheit der Gewerkschaft der Freiheit des Konkurrenzkampfes vorzieht! Indem er nicht der Interessenharmonie, von der die liberale Gesellschaftslehre spricht, gedenkt, sondern seiner eigenen Klassenlage, stört er eben die Harmonie und dadurch die eigene Glückseligkeit. Mises zweifelt nicht daran, daß der Arbeiter „nur durch die Aufstachelung seiner niedrigsten Eigenschaften“ dem Liberalismus abtrünnig gemacht worden ist. Und das war nicht einmal schwer, „denn das Böse im Menschen zu wecken, ist immer lohnend“.
Mises gibt ohneweiteres zu, daß auch in kapitalistischen Kreisen gegen das liberale Prinzip des Wettbewerbes viel gesündigt wird, aber während er in der Vereinigung des „gemeinen Mannes“ nur das Böse zu erblicken vermag, sind für ihn die Vereinigungen der feinen Leute oft ein Werkzeug der geschichtlichen Vernunft. Die preiserhöhende Politik der Kartelle kann zum Beispiel für längere Zeiträume nur wirksam bleiben bei monopolistischer Beherrschung der Naturschätze, und da erzwingt sie durch Teuerung ein sparsames Vorgehen mit nicht beliebig vermehrbaren Gütern, wie zum Beispiel mit Kohle und Eisen.
Die arme Wöchnerin, der Arbeitsinvalide frieren nun in ihren ungeheizten Stuben, um den Kohlenvorrat noch über die paar tausend Jahre, für die er gesichert erscheint, zu strecken, während der reiche Mann sich behaglicher Wärme erfreut. Kluge Haushaltung und doch – welch froher Genuß! Ist der Kapitalismus nicht die beste, die „einzig mögliche“ Wirtschaftsordnung? Sollte vielleicht der Freund des Herrn Mises mit der nach persönlichem Geschmack eingerichteten Wohnung auf eine schmale Kohlenration gesetzt werden? Nein! Das wäre ja ein staatlicher Eingriff in das Privatleben. Und schließlich, da er kein gemeiner Mann, sondern ein besserer Herr ist, hat er die Funktion, an fremdem Lebensgenuß zu sparen, nicht an eigenem. Das ist eben das Rationelle im kapitalistischen System, daß die Kapitalsakkumulation den Genuß nicht schmälert. Die einen entbehren – die anderen schaffen neues Kapital, ganz ohne Opfer. Aber eine sozialistische Akkumulation als von allen gewollte Erweiterung der gesellschaftlichen Produktionsbasis – das erscheint dem Herrn Professor höchst bedenklich.
Also kämpft Herr Mises mit geistigen Waffen für Privateigentum, Zins und Profit. Und die bürgerlichen Männer der Theorie, besonders aber die der Praxis, zeigen für diese Geistigkeit und diese Waffen das allergrößte Verständnis. Endlich ein Mann und ein Werk! In den Gewerkschaften sieht er das Walten des „Bösen“ und in der Sozialversicherung „unheilvolle Beeinflussung der sozialen Moral“. Das ist Wissenschaft!
Dieses gegenseitige Wohlgefallen soll nicht etwa durch abfällige Kritik gestört werden. Wer den Herrn Mises lobt, dessen Lob verdient er sicher. Dieses „standard work“ und seine begeisterten Kritiker bilden eine Interessenharmonie, die der „gemeine Mann“ begreift. Und es ist nicht einmal schwer!

Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft Nr. 4/2005

 

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