Klahr    Alfred Klahr Gesellschaft

Verein zur Erforschung der Geschichte der Arbeiterbewegung

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Peter H. Feist: Musik und Revolution. Zum Tod des Wiener Musikwissenschaftlers Georg Knepler

Am 14.1.2003 verstarb in Berlin, bis zuletzt forschend und schreibend, der Musikwissenschaftler Prof. Dr. Georg Knepler, in Wien geboren am 21.12.1906. Während fast acht Jahrzehnten eines Jahrhunderts der Fortschritte und Katastrophen wirkte er in drei Ländern – Österreich. Deutschland, England – künstlerisch und wissenschaftlich, griff praktisch ins kulturelle Leben ein und nahm damit am politischen Kampf gegen den Imperialismus teil.

Ab 1926 studierte er in Wien Klavier, Komposition und Dirigieren und dann Musikwissenschaft. 1931 promovierte er über Brahms. Gleichzeitig war er von 1928 bis 1931 in Wien, Berlin, Prag, München und andernorts pianistischer Begleiter von Karl Kraus bei dessen einzigartigen „Vorlesungen“ der Opern von Jacques Offenbach, worüber er Jahrzehnte später eine tiefgründige Untersuchung verfasste („Karl Kraus liest Offenbach“, Berlin 1984), sowie Kapellmeister, Korrepetitor und Dirigent an der Wiener Volksoper, in Mannheim und Wiesbaden und etwas später Leiter von Arbeiterchören. In Berlin arbeitete er 1932 bis Anfang 1933 mit Bertolt Brecht und vor allem Hanns Eisler zusammen und begleitete Helene Weigel am Klavier, als sie Eislers „Wiegenlieder einer proletarischen Mutter“ in Arbeiterversammlungen sang. Der Machtantritt Hitlers beraubte Knepler, zumal er Jude war, jeder Wirkungsmöglichkeit in Deutschland, und auch aus Österreich musste er, der 1934, im Jahre der Februarkämpfe, in die vom Dollfuss-Regime verbotene KPÖ eingetreten war, nach kurzer Haft noch im selben Jahr nach England emigrieren. Dort verband er, immer tiefer in das materialistische Gesellschafts- und Geschichtsverständnis und die dialektische Analysenmethode von Marx und Engels eindringend, sein musikgeschichtliches Forschen mit der schon wegen des Lebensunterhalts notwendigen Tätigkeit als Operndirigent und Leiter des Emigrantentheaters „Laterndl“. 1946 nach Wien zurückgekehrt, wurde er Kulturreferent der KPÖ. Unter Beibehaltung seiner österreichischen Staatsbürgerschaft übersiedelte er 1949 in den östlichen Teil von Berlin, der in diesem Jahr zur Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik wurde. Dieser Alternative zum deutschen Imperialismus, diesem Versuch einer neuen, sozialistischen Gesellschaftsordnung, Lebensweise und Kultur widmete er von da an, auch entgegen Hemmnissen und Enttäuschungen, seine Ideen und Tatkraft, ohne die Verbundenheit mit seinem Heimatland aufzugeben und offen für alles Wertvolle und Neue in der Weltkultur.

Von 1950 bis 1959 war Knepler Rektor der später nach Hanns Eisler benannten Hochschule für Musik in Berlin und trug dazu bei, „Musiker neuen Typus“ auszubilden, die nicht nur spezielle Fähigkeiten üben und anwenden, sondern ganz bewusst vielfältig an der Gesamtwirkung von Kultur einer neuen Gesellschaft mitarbeiten sollten. Anschließend stellte er sich der Aufgabe, an Stelle der idealistischen, bürgerlichen Musikwissenschaft eine marxistisch fundierte mitzuentwickeln, um deren gesellschaftliche Funktion zu stärken. Zehn Jahre lang leitete er das Institut für Musikwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität. Gleichzeitig war der Chefredakteur der vom Verband der Komponisten und Musikwissenschaftler der DDR herausgegebenen Zeitschrift „Beiträge zur Musikwissenschaft“ und wurde 1964 als Ordentliches Mitglied in die Akademie der Wissenschaften der DDR gewählt.

Als junger Assistent am Kunsthistorischen Institut kam ich etwa zur selben Zeit wie Georg Knepler an die Humboldt-Universität und lernte ihn in vielen gemeinsamen hochschul- und kulturpolitischen Beratungen und Parteiversammlungen, viel später auch in der Akademie der Wissenschaften kennen und achten. Das blieb so, als wir die Arbeit in der Leibniz-Sozietät fortsetzten, nachdem die DDR der Bundesrepublik Deutschland beigetreten und die Akademie rechtswidrig aufgelöst worden war. Obwohl mir die Kenntnisse fehlten, seine Analysen musikalischer Werke im Einzelnen nachzuvollziehen, und wesentliche Unterschiede zwischen Musik und bildender Kunst direkte Gleichsetzungen verbieten, griff ich dankbar Anregungen auf, die von Kneplers Arbeiten ausgingen und von grundsätzlicher theoretischer und methodologischer Bedeutung für alle Zweige der Kunstwissenschaften sind. Seine Biografie verlieh seinen Ansichten ein besonderes Gewicht, und wie er weltanschaulich-politische Prinzipienfestigkeit mit dem Offenhalten von Fragestellungen verband, indem er ständig auf noch genauer zu Untersuchendes verwies und auch eigene voreilige Schlussfolgerungen wieder zurücknahm, konnte ihn zu einem anziehenden Vorbild machen.

Kneplers zweibändige „Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts“ (Berlin 1961), die mit dem Nationalpreis der DDR gewürdigt wurde, hob die Zusammenhänge der musikalischen Entwicklung mit der politischen und Sozialgeschichte und die Rolle der ökonomischen Faktoren des Musiklebens hervor und akzentuierte die Wirkungen, die das allgemeine Gedankengut, beispielsweise der Aufklärung, auf musikalisches Schaffen bis hin zu kompositorischen Details ausübte. Dem ging er auch später besonders in Arbeiten über Mozart immer genauer nach, und folgerichtig wurden ihm zum 80. Geburtstag eine kleine Festgabe „Mozart und die Ästhetik der Aufklärung“ (Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, Gesellschaftswissenschaften 11/1988) und zum 90. Geburtstag eine dreibändige Festschrift mit internationaler Autorenschaft „Musik/Revolution“ (hrsg. Hanns-Werner Heister, Hamburg 1997) gewidmet.

Knepler drang in verschiedene Richtungen vor, um den Gegenstandsbereich der Musikwissenschaft, der Musikgeschichtsschreibung, wie der Musikästhetik, zu erweitern und überkommene, schwer abzulegende Borniertheiten zu überwinden. Mehrere seiner Schüler und Mitarbeiter studierten auch außereuropäische Musikkulturen und Volks (sog. Traditionelle) Musik verschiedener Völker ebenso wie die jüngsten Erscheinungen populärer Musik (Jazz, Pop usw.). Die so zu gewinnenden Erkenntnisse über Wesen und Funktion des Musizierens wurden mit denen anderer, besonders naturwissenschaftlicher Fachrichtungen verknüpft. Knepler ging es darum, einerseits Erzeugung und Gebrauch von Klängen als lebensnotwendiges Verhalten der Gattung Mensch zu erweisen, dessen Genese und Vorformen bis ins Tier-Mensch-Übergangsfeld und sogar Tierreich zu verfolgen, und andererseits deutlicher als bisher zu zeigen, dass Musik nicht nur emotiv wirkt, sondern im Verlauf der Geschichte ihre eigenen Methoden entwickelte, um – vergleichbar der Sprache, aber anders als diese – auch Aussagen über die Realität zu machen, Konflikte und deren Lösung darzustellen.

Sein umfangreiches, weit ausholendes Buch „Geschichte als Weg zum Musikverständnis. Zur Theorie, Methode und Geschichte der Musikgeschichtsschreibung“ schrieb er ausdrücklich für die renommierte Taschenbuchreihe Reclam Universitätsbibliothek (Leipzig 1977, 2. überarb. Auflage 1982), damit diese strengsten wissenschaftlichen Kriterien genügende, anspruchsvolle Darstellung für den Preis von vier Mark auch in die Hände jedes Studenten oder Musikfreundes gelangen konnte. Der Buchtitel hat durchaus einen doppelten und auch auf die anderen Kunstwissenschaften übertragbaren Sinn: Sowohl das ästhetische Wesen der Musik insgesamt in all ihren besonderen Leistungen für die Menschen, als auch die Eigenart jedes einzelnen Musikstücks sind nur in der Geschichtlichkeit des Geworden-Seins wie des Weiter-Wirkens zu verstehen.

Georg Knepler war ein neugierig Zuhörender und Lesender und unablässig Fragen Stellender – an Philosophie, Semiotik, Kulturtheorie, Sprachwissenschaft, Archäologie, Historie, Psychologie, Verhaltenforschung, Tierstimmenforschung usw. Wachsende Sorge über den gegenwärtigen Weltzustand und nicht nachlassender Hoffnung, dass Vernünftige diesen zum Besseren wenden können, ließen ihn bis zuletzt an einem weiten Rückblick auf die Menschheitsgeschichte und Ausblick in die Zukunft arbeiten.

Peter H. Feist lebt als Kunsthistoriker in Berlin. Er ist Mitglied der Leibniz-Sozietät.

Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft, Nr. 1/2003

 

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