Klahr    Alfred Klahr Gesellschaft

Verein zur Erforschung der Geschichte der Arbeiterbewegung

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Peter Goller: Zum 30. Todestag von Georg Lukács (1885-1971): Lukács’ Kritik der österreichischen bürgerlichen Wissenschaftstradition

Die österreichische bürgerliche Gelehrtenwelt stand nicht im Mittelpunkt des Denkens von Georg Lukács, der in seiner vor-marxistischen Entwicklung bis 1918 im bürgerlich intellektuellen Deutschland – so im Heidelberger Kreis um Max Weber – verkehrte und dort mit einer „Theorie des Romans“ (1916) u.a. Thomas Mann nachhaltig beeindruckte.

In der in den 1940er Jahren verfassten „Zerstörung der Vernunft“ rechnet Lukács mit dem deutschen Irrationalismus seit  Friedrich  Wilhelm Schelling, Arthur Schopenhauer, Sören Kierkegaard, Friedrich Nietzsche, Wilhelm Dilthey oder Georg Simmel als Wegbereitern der bürgerlichen Un-Vernunft und der offen faschistischen Ideologie ab.

Im Wiener Jahrzehnt als ungarischer Exilkommunist von 1919 bis 1930, d.h. in den Jahren nach der im August 1919 vom konterrevolutionären Terror liquidierten Ungarischen Räterepublik, deren stellvertretender Volksbildungs- und Kulturkommissar Lukács war, in den Jahren von „Geschichte und Klassenbewußtsein“ (1923), der Lenin-Monographie (1924), in den Jahren des von Fraktionskonflikten (zwischen Eugen Landler und Bela Kun) und Komintern-Differenzen („Ultralinks“!) überlagerten Kampfs gegen den Horthy-Faschismus, in die Lukács mit seinen am Ende des Wien Aufenthalts veröffentlichten „rechten“ „Blum-Thesen“ involviert war, kam der von der Auslieferung an den ungarischen Faschismus bedrohte Lukács auch mit der österreichischen Universitätswelt in gelegentlichen Kontakt, so zum Kunsthistoriker Max Dvorak, den er in „Geschichte und Klassenbewußtsein“ gemeinsam mit Alois Riegl, einem weiteren Wiener Kunsthistoriker, und Wilhelm Dilthey zu den „wirklich bedeutenden Historikern“ des 19. Jahrhunderts zählte.

Politische und wissenschaftliche Arbeit war für Lukács eins, wie allein eine in den 1970er Jahren veröffentlichte fünfbändige  Sammlung „Politischer Aufsätze“ aus Lukács’ Wiener Periode zeigt. „Geschichte und Klassenbewußtsein“ ist – wie Lukács im Vorwort Ende 1922 in Wien notiert – „in der Zeit einer unfreiwilligen Muße“, wenn „auch mitten in der Parteiarbeit, als Versuche, theoretische Fragen der revolutionären Bewegung für den Verfasser selbst und für seine Leser zu klären“, entstanden. 

Wenn Lukács in dem am linken Rand der bürgerlichen Gelehrtenwelt angesiedelten, zwischen 1910 und 1930 in 15 Bänden erscheinenden „Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung“, das der „kathedermarxistische“ Nationalökonom und Sozialhistoriker Carl Grünberg (1861-1940) bis 1924 als Wiener Universitätsprofessor und dann ab 1924/25 als erster Direktor des Frankfurter „Instituts für Sozialforschung“ herausgab, publizierte, so bewegte er sich damit nicht in der Welt der bürgerlich-akademischen Publikations- und Rezensionsgeschäfte. Lukács’ Besprechungen von – im Dienst des sozialdemokratischen Reformismus stehenden – Lassalle-Editionen, von rückschrittlichen Büchern Othmar Spanns und Carl Schmitts waren vielmehr hochgelehrte Beiträge zum proletarischen Klassenkampf, so wenn Lukács 1928 in „Grünbergs Archiv“ die „universalistische“ Sozialphilosophie von Othmar Spann (1878-1950) als „Produkt einer eklektischen Apologetik“ des Kapitalismus und als vorfaschistische Ideologie abtat.

Lukács erkannte, dass Spanns „Kategorienlehre“ mit ihrer im Sinn einer scholastischen „Gliedlichkeit“ und „Ganzheitlichkeit“ geführten Polemik gegen Kausalität und „Mechanismus“ der reaktionären Propaganda „ständestaatlicher“ Auffassungen diente. Die Ideengeschichte – so Lukács – wird von Spann in Richtung eines „Universalismus“ eingeebnet: Alle Kühe sind in der „mondbeglänzten Zaubernacht“ der Spann'schen neuromantischen Ideologie schwarz. Die Spann'sche „Ganzheit“ – so  Lukács’ Anliegen – hat mit der Hegel-Marx'schen „Totalität“ („das Wahre ist das Ganze“) nichts gemein: „Aber nur wer nie versucht hat, die Logik Hegels auch nur anzublättern, wird zu behaupten wagen, dass Hegel der Kausalität nicht eine entscheidende Stelle im Aufbau der Logik zugewiesen hätte.“

Der Versuch des einflussreichen Wiener Ordinarius Spann, Marx als „Mechanisten“ zu diffamieren, zeigt für Lukács dessen Unkenntnis über den Zusammenhang von Hegel und Marx: „Wer nur einen Blick in die entscheidenden Schriften von Marx geworfen hat, wird wissen, dass weder die Krisentheorie noch die Theorie der Durchschnittsprofitrate, weder die Akkumulationsfrage noch die Grundrententheorie usw. bei Marx ihre Kausalerklärung ohne das Zugrundelegen der Kategorie der Totalität, des Gesamtprozesses finden können.“

Lukács zeigte, dass Spanns „Ganzheits“-Ideologie mit ihrem Anknüpfen an die scholastische Philosophie, Spanns „Kategorienlehre“ und dessen Rückgriff  in die Urgeschichte des Geistes von epigonaler Irrelevanz wären, dienten sie nicht reaktionären Zwecken: „Denn die Upanishaden und Meister Eckhart stehen im Dienste einer modern-kapitalistischen Weltanschauung. Die Verkündigung der ständischen Wirtschaftsordnung hat den Zweck, den modernen Kapitalismus zu verteidigen, d.h. das kapitalistische Element in ihm zu bejahen und zu festigen und die Auflehnung des Proletariats ‘als wesenswidrig’ zu verdammen.“

Lukács bezeichnete Spann als „eklektischen“ Apologeten des Kapitalismus und seiner faschistischen Herrschaftsformen, als Kompilator einer reaktionären Synthese der „ständischen Gesellschaft mit (dem) Taylorsystem“: „Die ‘Abgeschiedenheit’ ist von Meister Eckhart entlehnt und mit neukantischen Fetzen drapiert worden, um den gegenwärtigen Zustand, in seinen für die Kapitalistenklasse günstigen Momenten, zu verewigen. Es ist, kurz gesagt, eine sophistische Apologie des Fascismus.“

In der „Zerstörung der Vernunft“ führt Lukács Spann nach 1945 als maßgeblichen Exponenten einer präfaschistisch, militant antisozialistischen Soziologie vor, der zu Einfluss kam, nachdem Max Weber, der liberale Soziologe der bürgerlichen (Zweck-) Vernunft, im Gefolge der verschärften Klassenkämpfe nach 1918 von offen reaktionären, teils lebensphilosophischen (Hans Freyer), teils dezisionistischen (Carl Schmitt) oder eben katholisch-scholastischen Deutungen von Spannschem Zuschnitt ersetzt worden war. Spann lehnte Max Weber nicht zufällig als liberal und agnostisch ab.

Lukács beschreibt Spanns „Ganzheitstheorie“ in der „Zerstörung der Vernunft“ als Instrument zur Leugnung der Klassenwidersprüche, zur Ausschaltung der Kampforganisationen der Arbeiterklasse, zur Verbrämung einer „ständischen Volksgemeinschaft“: „Wie später der Faschismus, entfernt er den ‘Eigennutz’ aus der ‘ganzheitlichen Wirtschaft’, macht aus den Kapitalisten ‘Wirtschaftsführer’, aus den Arbeitern eine ‘Gefolgschaft’, einen neuen Stand usw.“

Lukács erklärte materialistisch, warum Spann bei den Nazis in Ungnade fiel: Spanns reaktionäres System aus katholisch-scholastischem Geist amalgamiert, ein Vorbild für viele „deutsche Obskuranten“, aber mehr dem österreichischen Klerikalfaschismus angepasst, wurde vom Hitlerfaschismus an den Rand geschoben, da Spanns „mittelalterlich-katholische Scholastik“ für die Bedürfnisse der sozialen Demagogie – ähnlich wie Oswald Spenglers Geschichtsmythen – ungeeignet war.

In der „Zerstörung der Vernunft“ analysierte Lukács im Umfeld seiner großen Nietzsche-Abrechnung auch zwei - von Österreichs  bürgerlicher Sozialwissenschaft heute wieder zunehmend hofierte – Verfechter des Irrationalismus, die eine zu Spanns „Ganzheitsscholastik“ konträre evolutionistische Soziologie verfochten hatten: Ludwig Gumplowicz (1838-1909) und Gustav Ratzenhofer (1842-1904). Lukács schätzte den Grazer Staatsrechtsordinarius Gumplowicz als Erben der feudal-aristokratischen Rassenideologie um Joseph Gobinenau ein, als Vordenker der Spengler’schen „Kulturkreislehre“. Daran kann der Umstand, dass sich Gumplowicz über das „Schädelmessen“ und „Rassenqualifizieren“ lustig machte, nichts ändern. Kern von  Gumplowicz’ Sozialphilosophie blieb ein sozialdarwinistisches Leugnen jeden historischen Fortschritts. Die „monistische Soziologie“ Gumplowicz’ endet für Lukács „glücklich bei einem kosmisch gemachten Malthusianismus“.

Lukács vergaß nicht den Umstand, dass Marx und Engels begeistert auf Darwin reagiert hatten. Lukács zitiert aber jene Marx-Briefstelle vom Jahr 1870, in der Marx aus Anlass einer Kritik an Friedrich Albert Langes Materialismus auf die dominierende reaktionäre Adaption des Darwinismus verwies, der auf die Phrase des „struggle of life“ kombiniert mit einer platten Malthusianischen Bevölkerungstheorie reduziert wurde.

Lukács täuschte sich nicht über das Faktum, dass Gumplowicz – wie später Spengler und sonstige Apologeten des bürgerlich-imperialistischen Irrationalismus – die Existenz einer „einheitlichen Geschichte der Menschheit“, die Menschheit als universales Subjekt der Geschichte im Sinne von Aufklärung und Moderne leugnete: Die Geschichte erklärte Gumplowicz zur „Naturgeschichte der Menschheit“. Gumplowicz meinte wörtlich, dass „die Vorgänge der Geschichte durch das Walten unabänderlicher Naturgesetze zu erklären“ ist – so Lukács: „Gumplowicz, wie später Spengler, wendet einfach die Phasen des biologischen Lebens des einzelnen (Jugend, Reife, Alter) per analogiam auf die Kulturwelten, beziehungsweise Kulturkreise an.“ Ludwig Gumplowicz und Gustav Ratzenhofer sind für Lukács Apologeten bürgerlicher Ungleichheitsideologien.

Nicht die Idee, nicht die Fortschrittsutopie religiöser, liberaler oder sozialistischer Herkunft prägen die Geschichte, sondern die brutale natürliche Differenz wird von Gumplowicz und Ratzenhofer im Sinn der ideologischen Erfordernisse des Imperialismus als Movens der Geschichte hingestellt. Lukács ordnet Gumplowicz in die lange Reihe der Zerstörer der Vernunft, die eine prä-faschistische Sicht der Geschichte propagiert haben: „Mit seiner primitiven biologistischen Geschichtskonstruktion, mit der Mystifizierung der Tatsachen des Klassenkampfes zu einem ‘naturgesetzlichen’ Rassenkampf, mit der antidemokratischen Gesinnung, die diese ganze Konzeption durchdringt, arbeitet er aber die Geschichtauffassung des Faschismus vor.“ Die sozialdarwinistischen Kategorien  „Herrschaft“ und „Gewalt“ werden von Gumplowicz – wie bei Nietzsche – nicht zufällig an die Stelle der analytischen Begriffe der Politischen Ökonomie gerückt, sondern als Ausdruck der „reaktionären Ideologie der imperialistischen Zeit“.

Sigmund Freuds Psychoanalyse und Sozialphilosophie fehlt in Lukács’ „Geschichte und Klassenbewußtsein“ 1923 völlig. Dieses Desinteresse an Freud und am gleichfalls nahe liegenden Wiener „Freudomarxismus“ – z.B. Wilhelm Reichs, dessen Faschismus-Analyse Lukács ignorierte – ist nur auf den ersten Blick überraschend. Schon im Mai 1922 hat Lukács in der „Roten Fahne“ (Berlin) eine Kritik der Freud'schen Massenpsychologie als ideologischer Reproduktion bürgerlicher Gegenstandsstrukturen formuliert: „Jede bisherige Psychologie, die Freudsche mitinbegriffen, leidet an der methodischen Schiefheit, dass sie von dem – durch die kapitalistische Produktionsordnung und Gesellschaft – künstlich isolierten, vereinsamten Menschen ausgeht. Sie behandelt seine – ebenfalls vom Kapitalismus produzierten – Eigenschaften als ‘dem’ Menschen ‘naturnotwendig’ eigentümliche, unveränderliche Eigenschaften. (...) Die Psychologie stellt auf diese Weise das Wesen der Dinge auf den Kopf. Sie versucht, die gesellschaftlichen Beziehungen des Menschen aus seinem individuellen Bewusstsein (oder Unbewußtsein) zu erklären (...).“

In der „Zerstörung der Vernunft“ beschreibt Lukács Freud unter Berufung auf Thomas Mann als Erben des Schopenhauer'schen Irrationalismus, die Psychoanalyse als eine immer wieder an Nietzsches Irrationalismus anstreifende Theorie. In weiterer Folge sah Lukács in Freuds „Tiefenpsychologie“ auch ein Instrument kapitalistischer Planungs-Utopie – sich nicht unterscheidend von Pragmatismus oder Behaviorismus.

Der in den zwanziger Jahren um den 1922 nach Wien berufenen Moritz Schlick gruppierte „Wiener Kreis“, ein Erbe des Mach'schen  Positivismus, findet sich beim jungen Lukács nur als Nebenmotiv. Erst der späte Lukács, der posthum veröffentlichten „Ontologie des gesellschaftlichen Seins“, sollte sich in der Linie der Lenin’schen Avenarius/Mach-Kritik ausführlich gegen den Wiener logischen Positivismus wenden, konkret gegen Rudolf Carnaps Metaphysikablehnung, deren Anspruch auf „ontologische Neutralität“ zwischen Materialismus und Idealismus von Lukács als ideologischer Schein gewertet wurde. Lukács lehnte Carnaps auf der Basis einer logischen Syntax geübte Kritik an der dialektischen Philosophie, Carnaps Verdikt von der „Sinnlosigkeit“ der traditionell philosophischen Probleme, der „Seinsspekulationen“ oder der Gerechtigkeitstheorien ab. Im Logischen Positivismus sah Lukács nur die modernisierte Variante der neukantischen Schulen mit ihrer Aufspaltung von Geltung und Wirklichkeit, von Sein und Sollen, mit ihrer Eliminierung des „Ding an sich“. 

Carnaps „logischer Aufbau der Welt“, der Siegeszug des Neopositivismus, in dem Lukács bloß die Modernisierung des deutschen formalistischen Neukantianismus (H.Rickert, H.Cohen, u.a.), des französischen Konventionalismus (H.Poincaré, P.Duhem) und des amerikanischen Pragmatismus um W.James erkannte, galt Lukács als Ausdruck der explosiven Entwicklung kapitalistischer Manipulations- und Verdinglichungstechnik im „amerikanischen Jahrhundert“, also als Sieg der positivistisch halbierten instrumentellen „tayloristischen“ Vernunft, wie dies Max Horkheimer und Theodor Adorno formulierten. Lukács beschrieb Carnap als Ideologen des „Dogmatismus der universellen Manipulation“. 

Lukács lehnte die vor allem vom ungenannt bleibenden Otto Neurath konzipierte Idee einer physikalistischen Einheitswissenschaft, die enzyklopädische Bewegung „Unity  Science“ ab, zumal sie alle Klassenwidersprüche harmonisierend  verschweige: Die Ernst Machs „Denkökonomie“ verpflichteten Neopositivisten zielten nämlich nur auf die Einheit der Erkenntnismethoden, nicht auf die objektiv erkennbare Einheit der Welt im Sinn des Dialektischen Materialismus, sie bestritten die Existenz eines objektiven Geschichtsprozess, sie ignorierten die „Arbeit“ als zentrale ontologische Kategorie. 

Lukács wandte sich gegen den neopositivistischen Reduktionismus, wonach sämtliche gesellschaftswissenschaftlich historischen Probleme auf Ausdrücke der Biologie, Physik oder Psychologie  reduziert werden können. Die in Carnaps Umfeld geäußerte Andeutung von Gesellschaftswissenschaft als „sozialer Behavioristik“ entsprach vom Standpunkt dialektischer Totalität einer kapitalistischen „sozialtechnologischen“ Planungslogik. In der „Zerstörung der Vernunft“ belegte Lukács, dass  der durch den Faschismus belastete deutsche idealistische Irrationalismus gescheitert und deshalb durch eine bürgerliche Substituts-Ideologie abzulösen war. Lukács nannte den Neopositivismus („Pragmatismus, Neomachismus“) oder die Karl Mannheim’sche Wissenssoziologie als geeignete Ersatzkandidaten.

Carnap erprobte 1931 in seinem Aufsatz „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ die positivistische Kritik der metaphysischen „Scheinprobleme“ an Martin Heideggers „Sein und Zeit“. Auch Lukács bezeichnete Carnaps und Heideggers Denken als extrem entgegengesetzt.  Nichtsdestotrotz sah er, dass Positivismus und Existentialismus  idente ideologische Bedürfnisse der bürgerlichen Intelligenz befriedigten.

Die Metaphysik-Verachtung der Neupositivisten führt nach Lukács, der hier Lenins Empiriokritizismus-Kritik folgt, nur zu einem Vakuum, in das im Sinne der „doppelten Wahrheit“ von wissenschaftlicher Rationalität und dezisionistisch-beliebiger Praxisdeutung religiöser Aberglauben, Fideismus, bürgerlich mystizistische Geschichts- und Gesellschaftsdeutungen, beliebige Okkultismen eindringen. Lukács verweist auf das Beispiel Nietzsches, der seine positivistische Erkenntnistheorie zugleich mit der obskuren Geschichts-Metaphysik von der „Wiederkehr des Gleichen“ vertreten hat. Lukács verweist auch auf jene (marxistischen) Anhänger von Ernst Machs Positivismus, die so wie Anatol Lunatscharski zu „Gottsuchern“ wurden.

Die „Tractatus logico-philosophicus“-Philosophie Ludwig Wittgensteins wird von Lukács in den 1960er Jahren als bemerkenswerte Variante im neopositivistischen Lager zur Kenntnis genommen. „Auch er lehnt jede ontologische Fragestellung als metaphysisch sinnlos ab.“ – bemerkt Lukács. Aber Wittgenstein sei zur Einsicht gekommen, dass die vom Neupositivismus zu metaphysischen „Scheinproblemen“ degradierten Fragen der klassischen Philosophie nicht vollständig ignoriert werden können, weshalb bei Wittgenstein eine gewisse Neigung zu einer, wenn auch „irrationalistischen Ontologie“ zu beobachten ist. Lukács verweist hierbei auf Wittgenstein-Sentenzen wie: „Wir fühlen, dass selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.“ oder: „Es gibt allerdings unaussprechliches, dies zeigt sich, es ist das Mystische.“ Wittgensteins „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen“ deutete Lukács als versuchten, wenn auch widerspruchsvoll individuell isolierten Ausbruch aus der universellen „Manipulations“-Tendenz des Neupositivismus.

Am Rande hat sich Lukács auch mit der Wiener „Reinen Rechtslehre“ Hans Kelsens befasst. Lukács benützte 1922 Kelsens Wiener Habilitationsschrift vom Jahr 1911 über „Hauptprobleme der Staatsrechtslehre“ für das große „Verdinglichungs-Kapitel“ in „Geschichte und Klassenbewußtsein“: Die Bourgeoisie gibt das im Kampf gegen den Feudalismus revolutionäre Naturrecht auf,  flüchtet im Gefolge der Französischen Revolution in die „Volksgeistmystik“ der rechtshistorischen Schule Savignys, der – wie Marx notierte – jede Sklaverei, jede Leibeigenschaft als rechtmäßig galt, wenn sie bloß eine „ehrwürdige“, historisch weit zurückreichende „Knute“ war.

Im Gefolge der Revolution von 1848 blendet die bürgerliche Rechtswissenschaft die Frage nach Rechtsinhalt, Rechtsentstehung  unter „rechts-positivistischer“ Beschränkung auf eine formale Normenanalyse dann endgültig aus, ein Prozess der nach Lukács über Georg Jellinek, der noch Zuflucht bei einem „ethischen Minimum“ gesucht hatte, bei Hans Kelsen vollendet wird. Die Wiener Rechtspositivisten Georg Jellinek, Hans Kelsen und der Ungar Felix Somlo erklären mit fortschreitender Verdinglichung des kapitalistischen Rechts dessen inhaltliche Frage, dessen „vernunftgemäße Begründbarkeit“, dessen „inhaltliche Rationalität“, dessen Entstehung für ein Mysterium, das „metajuristisch“ vorgelagert den Rechtswissenschaftler nicht zu interessieren hat, so Lukács in „Geschichte und Klassenbewußtsein“: „Diese Rechtsauffassung verwandelt aber das Entstehen und das Vergehen des Rechts in etwas – juristisch – ebenso Unbegreifliches, wie die Krise für die Nationalökonomie unbegreifbar geworden ist. Der scharfsinnige, ‘kritische’ Jurist Kelsen sagt denn auch über das Entstehen des Rechts: ‘Es ist das große Mysterium von Recht und Staat, das sich in dem Gesetzgebungsakte vollzieht, und darum mag es gerechtfertigt sein, dass nur in unzulänglichen Bildern das Wesen desselben veranschaulicht wird.’“

Lukács hat für die „Ontologie“ auch Kelsens 1965 veröffentlichten Essay „Recht und Logik“ zur Kenntnis genommen, in dem Kelsen den „logizistischen Schein“ seines Rechtsnormativismus teilweise zurückgenommen habe. Von manchem Kelsen-Schüler war dieser Aufsatz als Liebäugeln Kelsens mit einem „Normenirrationalismus“ abgelehnt worden.

In der „Zerstörung der Vernunft“ hat Lukács um 1950 Kelsens „Reine Rechtslehre“ und deren Sein/Sollen-Dualismus im Zusammenhang mit seiner Kritik des Neukantianismus, dessen formalistische Methodologie wegen ihres „extremen Relativismus und Agnostizismus“ jederzeit in religiösen Aberglauben und in „irrationalistische Mystik“ umschlage, angegriffen. Lukács stimmte deshalb der Carl Schmitt’schen Kritik an der neukantischen Rechtsphilosophie, an Kelsens Metaphysik der normativen „Zurechnungspunkte“ zu. Wenn Schmitt gegen die neukantische Rechtsphilosophie behauptet, dass alle „wesentlichen Vorstellungen der geistigen Sphäre des Menschen existentiell und nicht normativ“ sind, dass Normen „nur für normale Situationen gelten und die vorausgesetzte Normalität der Situation ein positivrechtlicher Bestandteil ihres ‘Geltens’ ist“, dann hat Schmitt gegen Kelsen – so Lukács – erkannt, dass das von Kelsen als „metajuristisch“ eliminierte Phänomen „Macht“ das entscheidende ist: „Schmitt ist hier dem liberalen Neukantianismus gegenüber, wie überhaupt in seiner, zuweilen geistreichen Polemik gegen die Soziologie des Liberalismus, durchaus im Recht. Vom Standpunkt einer demagogisch-monopolkapitalistischen Diktatur durchschaut er oft scharfsinnig jenen durch nichts begründeten, sich exakt erkenntnistheoretisch gebärdenden Dogmatismus, mit welchem der Neukantianismus aus dem Recht ein autonomes, eigengesetzliches Geltungsgebiet, nach dem Muster seiner Erkenntnistheorie oder Ästhetik, macht."

Dass Lukács die Theoretiker des austromarxistisch sozialdemokratischen Reformismus in seiner Wiener Umgebung verachtete, sei vermerkt: Friedrich Adler, den „Machianer“, Max Adler, den „Kantianer“, der die Vergesellschaftung „idealistisch“, „erkenntniskritisch“ als Widerspruch von Individuum und Gesellschaft und nicht als Klassenantagonismus gefasst hat, Otto Bauer, über den Lukács wegen dessen Glauben an die grenzenlose Akkumulationsmöglichkeit des Kapital als sozial-optimistischen „Proudhonisten“, in die bloß „ethische Opposition“ flüchtend lästerte, oder der nach Wien zurückgekehrte „Renegat“ Karl Kautsky, der den „Triumph Bernsteins“ – so Lukács 1925 – d.h. den Sieg des Revisionismus besser besorgt hat als Eduard Bernstein selbst, Kautsky, dessen Histomat-Deutung weniger an Geschichtsphilosophie als an Trieb-Psychologie erinnerte. Noch in der „Ontologie“ der späten 1960er Jahre vermerkt Lukács, dass Kautskys historische Pseudodialektik „das gesamte gesellschaftliche Sein auf wesentlich biologische Kategorien zurückführt, so dass bei ihm ‘die Geschichte der Menschheit nur einen Spezialfall der Geschichte der Lebewesen bildet’“.  Max Adler hingegen habe zeitgleich im Wien der späten 1920er Jahre in seinem Lehrbuch des Historischen Materialismus „jedes materielle Element“ aus der Geschichte eliminiert, indem er die ökonomischen Verhältnisse in „wesentlich geistige Verhältnisse“ transformierte.

Benützte Lukács-Werke:

1) Georg Lukács: Geschichte und Klassenbewußtsein (1923), jetzt in ders.: Frühschriften II. (=Lukács-Werke 2), Neuwied-Berlin 1968, 161-517.
2) Georg Lukács: [Rez.v.] Othmar Spann: Kategorienlehre (1928), in: wie 1), 689-694. 
3) Georg Lukàcs: Die Zerstörung der Vernunft (dt. 1952/54).  (=Lukács-Werke 9), Darmstadt-Neuwied 1962 (über Spann  557f. – über Gumplowicz/Ratzenhofer 590-602, usw.). 
4) Georg Lukács: Prolegomena. Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins I. (=Lukács-Werke 13), Darmstadt-Neuwied 1984 (Carnap/Wittgenstein-Debatte 343-375).

Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft, Nr. 2/2001

 

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