Klahr    Alfred Klahr Gesellschaft

Verein zur Erforschung der Geschichte der Arbeiterbewegung

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Karl Flanner: Die Märztage 1938 in Wiener Neustadt

Die Februartage des Jahres 1934 prägten mein Bewußtsein und bestimmten mein Agieren in den Jahren jener faschistischen Diktatur, die sich selbst als „Ständestaat“ bezeichnete. Das galt auch für meine Freunde aus der Arbeiterturnerbewegung, aus dem Arbeitermandolinen-Orchester und vor allem aus den Roten Falken. Ich fühle heute noch den schmerzlichen Stich in der Brust, da es uns polizeilich verboten wurde, unsere Turnhalle zu betreten, mit „Freundschaft!“ zu grüßen und unsere roten Fahnenzug zeigen.

Die gesamte Gruppe der Roten Falken, der ich angehörte, war in der Folge dem illegalen Kommunistischen Jugendverband (KJV) beigetreten. Wir organisierten uns in Zellen mit fünf Mitgliedern, hielten im „Spazierengehen“, in Kellerräumen oder bei Ausflügen Besprechungen über die politische Lage ab, verteilten die aus Wien gelieferten Zeitungen „Die Proletarierjugend“, „Die Rote Fahne“, den „Roten Soldaten“, welch letztere wir stets über die Zäune der Kasernen warfen, sowie die im Matrizen - Abzugverfahren selbst hergestellten Flugblätter und die lokale Zeitung „Der Kämpfer“. Meist vereinbarten wir dabei auch die nächsten Aktionen, wie das Hissen von roten Fahnen mit dem Hammer-und-Sichel-Zeichen, öffentliche Blitzversammlungen, Kurzdemonstrationen, das Anbringen von Kampflosungen an sichtbaren Stellen usw.
Unser Elan und unsere Zuversicht waren so groß, daß wir meinten, die Regierung mit einem wuchtigen Ansturm stürzen zu können. „Vom roten Februar zum roten Oktober“ hieß es, wohl in Anlehnung an die russische Oktoberrevolution, die uns nun als nachahmenswertes Beispiel galt. Deshalb richtete sich unser Kampf vorerst ausschließlich gegen die schwarzen Faschisten. Sind sie es doch gewesen, welche die Arbeiterbewegung zertrümmerten und die Diktatur errichtet haben, im Unterschied zu Deutschland, wo das die Hakenkreuzler bewerkstelligten.
Unsere Gegnerschaft, ja unser Haß traf naturgemäß die Leute um Dollfuß, Starhemberg, Schuschnigg sowie die lokalen Faschistenführer. Aber in dem Schatten, den sie über unser Land warfen, wuchsen die anderen Faschisten heran - die Nazis. Einige von ihnen (in meiner Umgebung) kannte ich gut. Sie sind meine Schulfreunde gewesen, auch Jugendgenossen aus der Turner- und Falkenzeit. Sie schwärmten vom deutschen Sozialismus, welcher der wahre Sozialismus sei, vom „Arbeiterführer“ Hitler, der für die Brechung der Zinsknechtschaft eintritt, Gemeinnutz vor Eigennutz verkündet und anderes mehr. Sie luden mich damals, 1936, ein, im deutschen Radio eine „Führerrede“ anzuhören. Wieviele solcher Reden hatte ich später gehört! Es war stets das gleiche hysterische Geschrei, „starke“ Worte, Drohungen, gepaart mit Versprechungen - ich konnte nicht ahnen, sechs Jahrzehnte später solches wieder zu hören - aber die Augen meiner Freunde glänzten: „Der Hitler sagt es ihnen. . .“ Es gab mit ihnen - welche ja die Enttäuschung des Februar 1934 zu Nazis gemacht hatte, - heiße Debatten. Auch über Dachau, ein KZ, in welchem nur schwer kriminelles Gesindel eingeliefert und zur Arbeit angehalten werde - wie sie es der Nazipropaganda nachsagten. Es waren Arbeiterjugendliche, welche von der Not und dem politischen Versagen von Arbeiterführern den Faschisten in die Arme getrieben wurden, ohne daß es ihnen bewußt geworden war, den gefährlichsten Feinden der Arbeiter anzuhängen. Es sei gleich vorweggenommenen, daß etliche von ihnen zu den ersten zählten, die später von der Hitlermacht enttäuscht wurden.

Gegen die Nazis

Erst im Jahr 1937 begannen wir, auch die Nazis aufs Korn zu nehmen. Damals bereiteten wir uns auf die erwartete gewaltsame Auseinandersetzung mit den Faschisten beiderlei Farben vor. Das war ja auch ganz natürlich. Die Staatsgewalt war ja bewaffnet zur Herrschaft gelangt und in Spanien tobte eben der von dem Faschistenführer Franco ausgelöste Bürgerkrieg. Mehr als ein Dutzend Wr. Neustädter Kommunisten kämpften dort in den Reihen der Internationalen Brigaden. Also absolvierten wir Gewaltmärsche, trugen schwere Rucksäcke über schwierige Bergpfade, versuchten Durst auszuhalten usw. Damals gelang es uns, die wir zur legalen Tarnung unserer illegalen Tätigkeit in der von der Regierung zugelassenen und von Klerikern betreuten Vereinigung „Junge Front“ wirkten, eine städtische Turnhalle für wöchentliche Turn- und Sportübungen zu erhalten. Auch dort trainierten wir und ließen uns von unseren seinerzeitigen Vorturnern im Arbeiter-Turnverein u. a. Jiu-Jitsu-Griffe beizubringen. Wir würden sie gewiß brauchen können...
Die politische Gelegenheit dazu sollte sich bald ergeben. Das von den Austrofaschisten betriebene sukzessiven Hereinholen der Nazis in das staatliche Verwaltungs- und Regierungssystem (Glaise- Horstenau, Seyß-Inquart) sowie das Hitlerdiktat vom 12. Februar 1938, demgemäß sich die Nazis zum Hakenkreuz straflos bekennen, d. h. nazistische Propaganda betreiben durften, ermöglichte es ihnen, ihre Hakenkreuzabzeichen zu tragen und demonstrativ mit „Heil Hitler!“ zu grüßen. Auch die Abhaltung von Versammlungen wurde ihnen gewährt. Ich erinnere mich an eine solche, die am 5. März im Saale des ehemaligen Arbeiterheimes einberufen worden war.
Dieses war bis 1934 das Zentrum der Wr. Neustädter Arbeiterbewegung, der Sitz der Gewerkschaften und vieler Arbeiterkulturvereine. In seinen Räumen war 1918 der erste Arbeiterrat Österreichs gebildet worden. Diesen Boden durften wir nicht den Nazis überlassen. Es war eine Radiorede des Naziführers und nun zum Innenminister ernannten Seyß-Inquart angesagt. Der Saal war zum Bersten voll, was mich vorerst bedrückte. So viele Nazi? Aber bald erkannten wir jungen Kommunisten, die wir uns im Vorsaal eingefunden hatten, viele bekannte Gesichter alter, meist sozialdemokratischer Arbeiter, die gar keine Hitleranhänger waren, sondern welche die Neugierde dazu bewogen hatte,  zu kommen.
Ich wartete nicht das Ende der Propagandarede ab, sondern begann in dem ebenso überfüllten Vorsaal zu den Anwesenden einfach zu reden. Dabei sprach ich gewiß vielen aus dem Herzen, die meisten waren erstaunt, in einer Naziversammlung einen Kommunisten reden zu hören. Aber da drängten sich bald richtige Nazi vor. Mit denen entwickelte sich ein Schreiduell, ein Hin- und Herstoßen, das in Rauf- und Faustkämpfe überging, welche - wie ich rückblickend meine - außer blaue Flecken nur deshalb keine schlimmeren persönlichen Schäden zur Folge hatten, weil die größere Zahl der Nichtnazi dazwischengetreten ist. Wir reagierten auf alle diese die Nazi fördernden Maßnahmen der Regierung, ohne eine behördliche Erlaubnis zu erwarten - die ohnehin nicht erlassen wurde - damit, daß wir uns ins Knopfloch eine rote Schleife banden, mit der rechten erhobenen Faust demonstrierten (dem Arbeitergruß) und den Worten „Freiheit -Österreich“ grüßten.
In diesen Tagen traten die Nazis offenbar zur „Eroberung von Wr. Neustadt“, der einst roten „Festung“, an. Vom Wr. Neustädter Transportunternehmen Partsch, dessen Firmenchef mit den Nazis sympathisierte, wurden allabendlich die Nazis aus der Umgebung mit Autobussen in die Stadt gekarrt, wo sie in ihren weißen Kniestrümpfen - ein Uniformersatz - ihre braunen Spießgesellen verstärkten, durch die Straßen des Stadtzentrums bummelten und ununterbrochen ihr „Heil Hitler“ riefen. Wir organisierten im Gegenzug unsere Mitglieder und Freunde, vor allem die Turner, und traten ihnen mit unserem nicht weniger lautstarken Gruß entgegen. Das Auftreten in den Arbeiterwohnvierteln hatten wir den Nazis längst schon abgewöhnt. Dort waren aus dem abendlichen Straßenbild  Hakenkreuz, „Heil Hitler“ und weiße Kniestrümpfe bereits verschwunden. In den ersten Märztagen konzentrierten sich die Auseinandersetzungen auf das Stadtzentrum. Der Hauptplatz zeigte in diesen Tagen ein eigenartiges Bild: eine ziemlich starke Nazigruppe brüllte auf Kommando ihr: „Ein Volk, ein Reich“, eine kleine Gruppe der „Vaterländischen Jugend“ und christlich-sozialen Anhänger der austrofaschistischen „Vaterländischen Front“ versuchten es mit Schuschniggs Losung: „Rot-weiß-rot bis in den Tod“, und wir stießen gegen die Nazis mit unserem „Freiheit - Österreich“ vor.
Zahlreiche Fausthiebe, Fußtritte und Stöße wurden ausgeteilt, Nasen bluteten, Augen wurde blaugeschlagen - aber was soll’s, dachten wir, am Sonntag, dem 13. März, würden sie bei der von Schuschnigg angekündigten Volksabstimmung ohnehin eine Abfuhr bekommen. Außerdem wurden wir durch die aus Wien gekommene Information bestärkt, daß Arbeiterdelegierte mit der Regierung über die Heranziehung der Arbeiterschaft zum Abwehrkampf und die Wiederherstellung demokratischer Rechte und der Arbeiterorganisationen verhandeln (es handelte sich um die Vertrauensmännerkonferenz vom Floridsdorfer Arbeiterheim und deren Beschlüsse). Dann kam der 1 l. März.

Der 11. März

In den Arbeiterwohnvierteln am Flugfeld und im „Kriegsspital“ waren Volksversammlungen angesagt. Wir forderten die Bevölkerung mit Sprechchören zur Teilnahme auf. Die Versammlungssäle waren überfüllt, jeder hatte die von Mädchen des KJV aus Papier angefertigten roten Nelken an den Rock geheftet. Es war fast so wie einst. Aber da wurde die Radiomeldung vom Einmarsch der Hitlerarmee und vom feigen Zurückweichen der Schuschnigg-Regierung durchgegeben. Hatte es von dort nicht eben noch geheißen: „Rot-weiß-rot bis in den Tod“? Jetzt erst, der Schützenhilfe „des großen braunen Bruders“ sicher, „eroberten“ die Nazis das Rathaus und vollbrachten das, was sie braune Revolution und „Machtergreifung“ nannten.
Wie ernst die Naziführung die Vorgänge in Wr. Neustadt genommen hatten, geht aus einer Meldung der am 13. März 1938 bereits gleichgeschalteten >Wiener Zeitung< hervor, welche von kommunistischen Unruhen in Wr. Neustadt schrieb, und wörtlich verkündete: „In den in aller Welt vorliegenden Berichten über Österreich wird darauf hingewiesen, daß bereits unzählige Zusammenstöße erfolgt sind und mancherlei Unruhen stattgefunden haben. So haben sich kommunistische Haufen in Wiener Neustadt zu einem bewaffneten Marsch nach Wien vorbereitet.“
 Eine der ersten, schon am 7. April getroffenen nationalsozialistischen Maßnahmen war die durch ein sogenanntes „SS-Sturmkommando Wiener Neustadt“ vorgenommene Wiedereröffnung des Konzentrationslagers Wöllersdorf, das einen Monat zuvor auf Grund der allgemeinen Amnestie geleert worden war. Jetzt kam es wieder zur Einlieferung von Antifaschisten, vorwiegend Kommunisten und Revolutionäre Sozialisten, die den Nazis gut bekannt waren. Diese befanden sich nun in der eigenartigen Nachbarschaft mit einigen Lokalgrößen der abgehausten „Vaterländischen Front“, welche bis vor kurzem selbst die Betreiber dieses KZ’s gewesen waren. So ergab sich die eigenartige Situation, daß das KZ- Wöllersdorf ebenso bekannt war wie das KZ-Dachau, welches die Nazi selbst im Munde führten und in ihrer Lokalpresse den „Unbelehrbaren“ androhten. Etliche Menschen verschwanden, und auf die Frage, wo sie seien, erfolgte bloß ein Achselzucken - und dennoch: für meine Begriffe viel zu viele haben sich betören lassen, steckten das Hakenkreuzzeichen an den Rock, traten der SA bei, verpflichteten sich freiwillig auf eine langjährige Dienstzeit in der Hitlerarmee und ließen das „Heil Hitler“ allzu bereitwillig und oft hören. Darunter befanden sich einige meiner Bekannten, ja auch Freunde, vor denen wir nun nicht mehr wie früher offen reden konnten.
Nun stellten sich die obersten Naziführer in Wr. Neustadt ein: Gauleiter Hugo Jury paradierte am Hauptplatz, der nun den Nazis gehörte, knapp nach ihm stellte sich der Reichsjugendführer Baldur von Schirach ein, um die Jugend für die Nazis zu gewinnen, dann folgte der Führer der „Deutschen Arbeitsfront“ (DAF), Robert Ley, der symbolisch in einer der leeren Werkshallen der stillgelegten Motorenfabrik Daimler auf die Arbeitslosen einredete, und am 29. März kam gar der Reichsmarschall Hermann Göring, der sich für den Flugplatz und seine Rollbahnen sowie für die Rüstungskapazität der Wiener Neustädter Industrie interessierte, ein Motiv, welches auch die Fliegerkommandeure Ernst Udet und Erhard Milch nach Wr. Neustadt trieb. Sie waren es, welche die Stadt zu einem Rüstungszentrum des Dritten Reiches machten, was dann zu ihrer die totale Zerstörung führen sollte. Hitler hat sich in Wr. Neustadt nie blicken lassen. Warum auch immer, es genügte, wenn der Hauptplatz mit seinem Namen bekleckert wurde. Und um der national-“sozialistischen“ Freiheit die höchste Weihe zu verleihen, wurde in einem „arisierten“ Haus eine Außenstelle der Geheimen Staatspolizei (GeStaPo) eingerichtet, die in der Folge im südlichen Wiener Becken wütete.
Die von den grünen Faschisten am 12. Februar 1934 politisch vorbereitete und am 11. März 1938 von den braunen Faschisten eingeleitete Katastrophe endete mit der Zertrümmerung der Stadt, mit 806 Toten als Hitlersoldaten und mehr als tausend durch Fliegerbomben Getöteten. Der antifaschistische Widerstand, der von 1938 an als Befreiungskampf geführt wurde, hatte in Wr. Neustadt sofort eingesetzt, sowohl gegen den grünen als auch gegen den braunen Faschismus. Unterm Schafott und in den Konzentrationslagern wurden aus dem Wr. Neustädter Gebiet 43 namentlich erfaßte Menschen umgebracht. Die in die Fänge der Gestapo und Nazijustiz Geratenen mußten insgesamt 355 Jahre hinter Gittern oder starkstromgeladenen Stacheldrähten verbringen, ehe die unmenschlichste Staatsform des kapitalistischen Systems, der Faschismus zerschlagen werden konnte.

Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft, Nr. 1/1998

Karl Flanner verfasste zu diesem Thema folgende Bücher:
Flanner, Karl: Wiener Neustadt im Ständestaat. Wien: Europaverlag 1983
Fein, Erich/Flanner, Karl: Rot-weiß-rot in Buchenwald. Die österreichischen politischen Häftlinge im Konzentrationslager am Ettersberg bei Weimar 1938–1945. Wien, Zürich: Europaverlag 1987

 

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