Klahr    Alfred Klahr Gesellschaft

Verein zur Erforschung der Geschichte der Arbeiterbewegung

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Ernst Bruckmüller: Einige Überlegungen zur nationalen Identität der Österreicher /1/

1. Identität und Namen

Identität heißt Übereinstimmung mit sich selbst. Das äußert sich in der Regel darin, daß Menschen einen Namen haben, sich in diesem Namen erkennen und von anderen erkannt werden. Identität bedeutet Unverwechselbarkeit und Einzigartigkeit. Der Name bedeutet freilich nicht nur Einzigartigkeit, sondern zugleich auch Zugehörigkeit, Zuschreibung, Einordnung, Erkennbarkeit als Gruppenmitglied - über den Familiennamen etwa, oder über das Patronymikonsuffix in den slawischen Sprachen. Damit sind wir schon einen Schritt weiter: nicht nur Individuen haben solche Identität, sondern auch Gruppen, kleinere und größere, familiale Verbände, Gefolgschaften, Dörfer und Städte, Gemeinden und Talschaften, Vereine und Firmen, Stämme und Nationen.
Das zentrale Symbol einer Gruppe ist also der Name. Nicht zufällig nennen sich ethnische Gruppen selbst „die Menschen“, die „wahr Redenden“, die „Wilden, Kühnen“ (etwa die Franken). Ihre Namen drücken aus, was sie fühlen: jeweils die einzigen wirklichen Menschen - oder zumindest Kerle - zu sein, denen gegenüber alle anderen eben nichts sind, die „gentes“ da draußen, die Völkerschaften, die Heiden, die Barbaren, die Stummen. Oder sie nannten sich nach einem Gründungsheros, einem „heiligen Spitzenahn“, wie die Hellenen oder wie das Volk Israel. Der Name Österreich bietet nichts von alledem. Österreicher sind schlicht und einfach die Österreich-Bewohner. Das bezieht sich auf jenes „Ostarrichi“, das 996 zum ersten Mal in einer Urkunde auftaucht, jenes bayrische Ostland, das sich in den folgenden Jahrhunderten zu einem eigenen Land entwickelte, seit 1156 als Herzogtum galt und dessen Bewohner im 13. Jahrhundert durchaus als eigener deutscher Stamm gesehen wurden - ein interessanter Fall von Neustammbildung im Mittelalter, ganz analog zur Entwicklung der Steirer, Tiroler usw.
Hatten oder haben „die“ Österreicher tatsächlich Schwierigkeiten mit ihrer Selbstzuordnung, mit ihrem Wissen um eine nationale Gruppenzugehörigkeit? Derzeit scheint das im Grunde nicht der Fall zu sein. Die ganz große Mehrheit der Österreicher sieht sich als Österreicher, und damit könnte man zur Tagesordnung übergehen.

2. Wer waren die „Österreicher“ ?/2/

„Österreicher“ waren zu verschiedenen Zeiten sehr verschiedene Menschen und sehr verschiedene regionale, aber auch soziale Gruppen: Vielleicht wurden schon die Bewohner des karolingischen Ostlandes so genannt, sicher dann die (adeligen und ritterlichen) Leute aus dem „Land Österreich“ des Hochmittelalters. Dieser Österreichbegriff hat sich ja neben allen anderen gehalten, bis ins 20. Jahrhundert herauf: In der Wachau erzählte noch vor etlichen Jahren eine ältere Frau, sie habe aus der Steiermark ins Österreichische „heraus“ geheiratet. Österreich - Nieder- und Oberösterreich, und die Österreicher waren und sind eben die Bewohner dieser beiden Länder. Daneben entwickelt sich die „Herrschaft zu Österreich“ und das „Haus Österreich“ des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit: Herrschaftsgebiet und Familie der Habsburger. „Österreicher“ in diesem Sinne waren zunächst einmal die Mitglieder des Herrscherhauses, die Habsburger, und wohl auch ihr Gefolge, ihr Hofadel, ihre Bürokratie, ihre Offiziere. Noch der unvergeßliche „österreichische Mensch“ Alphons Lhotskys tradiert diesen Bedeutungsinhalt weiter, und ganz folgerichtig meinte Lhotsky denn auch, daß diese Spezies im 20. Jahrhundert wohl schon ausgestorben sei.
Mit den Kriegen des 18. und 19. Jahrhunderts war dann von „österreichischen“ Armeen und Österreichern die Rede, die ihre Kriege hier und da gewannen, relativ häufig auch verloren. Diese umgangssprachliche Vereinheitlichung ging locker über die bis weit ins 19. Jahrhundert gültige Trennung zwischen „deutschen“ und „ungarischen“ Regimentern der Habsburger hinweg, die - unter anderem - unterschiedliches Schuhwerk trugen. Freund oder Feind müssen im Kriegsfalle mit eindeutigen Begriffen belegt werden - die „Staaten“ der Habsburger oder „die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder“ boten da nichts taugliches. Also griff man auf die Kurzbezeichnung „Österreicher“ zurück, wenn es um die bis 1866 weißberockten Soldaten der Habsburger ging. Im 19. Jahrhundert konnte die Bezeichnung „Österreicher“ aber ganz ebenso - auch dafür gibt es Belege - den Bewohner der österreichischen Donau- und Alpenländer meinen. Zwei der Statuen auf dem Börsengebäude (Palais Ferstel, Herrengasse - Strauchgasse, heute Café Central) heißen „Österreicher“ und „Österreicherin“, sie stehen neben Ungarn (-in), Böhmen, Polen, Slowaken, Kroaten usw., und sie drücken Alpines aus in ihrer Gewandung.
Genau diese „Österreicher“, und ebenso die Deutschböhmen, Deutschmährer, Deutsch-Schlesier, wurden von ihren tschechischen, slowenischen oder italienischen Nachbarn aber als „Deutsche“ benannt, und nannten sich auch selbst so, um ihre Sprachzuordnung auszudrücken. „Tedeschi“ oder „Nemci“ waren unsere Vorfahren in diesem Bild. Auch sie selbst sahen sich als „Deutsche“, die freilich ihrerseits wiederum ganz klar zwischen jenem „Deutschland“ unterschieden, in dem sie selbst lebten, und dem „nicht“- oder „außerösterreichischen“ Deutschland, in dem andere Deutsche, die „Reichsdeutschen“ lebten (noch heute ist bei alten Leuten dieser Sprachgebrauch lebendig). Dieser semantische Pallawatsch war solange unproblematisch, als alle diese Benennungen nur mehr oder weniger wichtig waren, solange also die regionalen Primäridentifikationen (Talschaft, Pfarre, Stadt, Land, vielleicht Grundherrschaft) und die Herrscherloyalität die Loyalität zu einer Sprachgruppe, das, was im 19. Jahrhundert die „nationale“ Zugehörigkeit wurde, an Bedeutung weit übertraf. Er wurde nicht einmal dann wirklich problematisch, als sich die sprachlich definierte nationale Zugehörigkeit langsam an die Stelle des Landesbewußtseins schob (etwa bei den Deutschböhmen, wenigstens zum Teil als Reaktion auf das sogenannte „nationale Erwachen“ der Tschechen). Nur langsam begannen die Deutschen Österreichs, die Deutschösterreicher, in ihrem symbolischen Inventar allem, was sich mit dem „Deutschtum“ verband („deutsche Dichtung“, „deutsche Wissenschaft“, „deutsche Kultur“ - diese qualligen und nebulosen All-Begriffe, mit denen alles und nichts erklärt werden kann) erhöhte Bedeutung zuzumessen. Daneben scheinen aber die „österreichischen“ Identifikationsobjekte - Staat und Dynastie der Habsburger - bis 1918 ganz ebenso zentral geblieben zu sein. Möglich, daß für diese Widerstandsfähigkeit des übernational „Österreichischen“ in der symbolischen Belegung der Monarchiebewohner das Wehrgesetz von 1868 wichtig war, durch das erstmals eine wirklich allgemeine Wehrpflicht und damit eine dreijährige enge Berührung zwischen dem Doppeladler und der männlichen Bevölkerung ganz Österreich-Ungarns geschaffen wurde.
Im Prozeß der Ausbildung von sprachlich orientierten Nationen - einem in Mitteleuropa allgemeinen und für unseren Raum schon sehr oft beschriebenen Vorgang - entwickelte sich eine mehrfältige symbolische Zuordnung der Deutschösterreicher. Ein Teil dieser Symbolik bezog sich auf das „außerösterreichische Deutschland“ - auf Weimar etwa („Goethe ist auch unser“). Immerhin übernahm ein Teil der Deutsch-Österreicher in radikal anti-österreichischer Wendung die Symbole der preußischen Hohenzollern. Daher wurde die blaue Kornblume, angeblich die Lieblingsblume Wilhelms I., zum Symbol eines irredentistischen Alldeutschtums. Andererseits bezog die Symbolik des Nationsbildungsprozesses der „Reichsdeutschen“ weder Habsburg noch auch die Deutschösterreicher und ihre Kultur mit ein. Es ist immer wieder spannend zu beobachten, wie die jeweils radikalsten österreichischen Deutschnationalen, die sich ihrerseits selbst von ihrer „österreichischen“ Zuordnung abgewandt hatten, in Deutschland selbst eine Abfuhr erlitten. Erst seit den 1890er Jahren antworteten „alldeutsch“ orientierte Verbände im Reich auf die Hilferufe radikaler Deutschnationaler in Österreich. Bis dahin - nichts dergleichen. Diese Beobachtung legt es nahe, von zwei deutschen Nationsbildungen im 19. Jahrhundert zu sprechen - von der Nationsbildung der „Reichsdeutschen“, mit ihren Symbolfiguren Luther, Hohenzollern, Friedrich der Große, Bismarck usw., und von einer „deutschösterreichischen“, mit ihren Symbolfiguren Habsburg, Prinz Eugen, Grillparzer, aber auch Schiller und Goethe, mit einer selbst wiederum je nach Region und sozialem Status durchaus vielfältigen und unterschiedlichen Ausprägung dieses nationalen Bewußtseins.
1918 ging der deutsch-österreichischen Identität die österreichische Komponente verloren - oder sie geriet (zumindest) in eine schwere Krise. Es war, wie es sich für eine wirkliche Identitätskrise gehört, eine Krise der Selbstbenennung, des Namens. Gerald Stourzh hat die vielen, teils recht obskuren Vorschläge für den Staatsnamen der Ersten Republik zusammengestellt. Schließlich zwang, wie es Otto Bauer ganz kraß formulierte, die Entente der Republik den „verhaßten Namen“ (wieder) auf. Mögen österreichische Selbstzweifel und Identitätsschwierigkeiten auch schon früher existiert haben, nunmehr wurden sie zu einem zentralen Problem. Viele Deutschösterreicher wollten jetzt nur mehr „Deutsche“ sein, mit den anderen Deutschen zusammen in einem Staat leben - wobei freilich die österreichischen Anschlußpläne von 1918/19 noch immer etwas vom guten alten preußisch-österreichischen Dualismus weitertrugen: Man dachte sich zwei Reichshauptstädte, man wünschte sich eine abwechselnde Residenz des Reichspräsidenten, einmal in Berlin, einmal in Wien.
Die gesamte Erziehung gerade der demokratischen Republik Österreich war darauf aus, Deutsche zu erzeugen. Nicht auszudenken, wenn Hitler diesen österreichischen Träumen 1938 entgegengekommen wäre! So aber erwies sich der gebürtige Österreicher Adolf Hitler als radikalster Feind des Namens Österreich und tilgte (fast) alles, was daran erinnerte (die Auslöschung eines Teiles des eigenen symbolischen Inventars bei unerträglicher Doppel- oder Mehrfachbelastung ist häufig: Kärntner Deutschnationale mit slowenischen, deutschböhmische mit tschechischen Namen zeigen es immer wieder). Und dies führte, bei manchen früher, bei anderen später, zu Verlustgefühlen und schließlich, in der Emigration wie im Lande selbst, zur Wiederentdeckung des Österreichischen, der seit 1918 problematischen, 1938 verlorenen österreichischen Dimension des deutsch-österreichischen Selbstbewußtseins. Und ab 1945 auch zur Verdrängung der „deutschen“ Dimensionen, was freilich niemals so weit ging, daß die Österreicher in der Tat ihre Sprache gewechselt hätten (wie die Luxemburger). Hier fand also durchaus Verdrängung und Abwertung statt, daneben und gleichzeitig aber Wieder-Finden, ein Wiederentdecken von staatlichen und kulturellen Traditionen, das letztlich die Verabschiedung vom deutschen Traum so erleichterte.
1938 schien Österreich ein historischer Begriff geworden zu sein. Das haben, resigniert, auch gute österreichische Patrioten eingesehen. Dennoch tauchte ein anonymes „österreichisches“ Bewußtsein auch zwischen 1938 und 1945 immer wieder auf. Die Akten der Machthaber sprechen von „Österreich-Tendenzen“, die zwar nicht gefährlich schienen, aber doch genau verfolgt wurden. Die Tumulte bei den bekannten Fußballspielen Austria gegen Schalke 04 am 17. 11. 1940 oder Rapid gegen Schalke 04 am 22. 6. 1941 zeigten in ihrer aufgeheizten Stimmung einen Grad an Nichtübereinstimmung zwischen dem offiziellen gemeinsamen Deutschtum und dem tatsächlichen Differenzempfinden, das man gegenüber den neuen Herren fühlte, der es methodisch zulässig erscheinen läßt, hier eine Art von anonymen Österreich-Bewußtsein am Werk zu sehen, das sich literarisch, politisch und kulturell kaum bis gar nicht äußern konnte. Dieses anonyme Österreichbewußtsein reichte bis in die große Schar der nationalsozialistischen Österreicher hinein. Zitat aus einem Stimmungsbericht des SD des Reichsführers SS vom 21. 10. 1940 (also noch lange vor der Moskauer Deklaration!): „... Es ist bemerkenswert, daß sich anscheinend alle Gegnergruppen in einer Parole einig sind und dabei sogar bis in die Parteikreise hinein nicht unerhebliche Zustimmung finden, nämlich in der Vertiefung des Gegensatzes zwischen Ostmärkern und Altreichsdeutschen... Der Parteiapparat scheint in dieser Beziehung durchaus nicht einsatzfähig, da die Parteigenossenschaft ... bis in höchste Stellen hinauf eine Wut gegen alles Altreichsdeutsche in sich tragen ...“/3/
Es gibt auch zahlreiche distinkte Äußerungen, wie „Wir sind ja Österreicher; wir hätten die deutschen Gauner nicht gebraucht..“ (1940) oder, im selben Jahr, den demonstrativen Applaus beim Lob Österreichs bei der Aufführung von „König Ottokars Glück und Ende“ im deutschen Volkstheater, der von der Gestapo durch mehrere Wochen genau beobachtet und dokumentiert wurde. Das alles spielte sich, wie gesagt, schon lange vor 1943 ab, konzentriert auf Wien und den Osten Österreichs und liegt sicher unterhalb der eigentlichen Widerstands-Linie. Aber es zeigt eine profunde Nicht-Übereinstimmung, die im Verlauf des Krieges zunächst durch die Erfolge im Westen etwas abgeschwächt, spätestens seit dem Rußlandfeldzug und Stalingrad aber wieder gestärkt wurde. Methodisch davon zu trennen sind organisatorische Versuche aller Schattierungen, „echte“ Widerstandsgruppen zu bilden. Wir wissen, daß die meisten dieser Gruppen aufgeflogen sind, daß es zahlreiche Opfer gab (die meisten unter den kommunistischen Widerstandskämpfern) und - dies ist für unser Thema erheblich - daß in der Motivation diese Bemühungen nicht ein „deutscher“ Antifaschismus dominiert, sondern ein „österreichischer“ Separatismus oder Patriotismus, wenn auch oft mit „linken“ Zielsetzungen verbunden. Daß eine Waldviertler Gruppe, die „Freischar Ostmark“, von der Anklage als klerikal und legitimistisch beschrieben, als Erkennungsgruß „Öha“ wählte, ist eine humorvolle Pointe, hinter der sich allerdings eine komplette Parole verbarg: „Österreicher harret aus“./4/
Am Prozeß der österreichischen Bewältigung der NS-Zeit gleich nach 1945 wird immer wieder kritisiert, daß es zuwenig Strafen für die Täter und zuwenig Wiedergutmachung für die Opfer gegeben habe und daß - etwa - die Gleichbehandlung der Naziopfer mit den Kriegsopfern durch den österreichische Nachkriegsstaat eine recht problematische Haltung zu Hitlers Krieg und zu den Naziverbrechen signalisiere. Es ist aber auch festzuhalten, daß es, abgesehen von der (wenngleich auch nicht perfekten) Rückerstattung von beschlagnahmten Vermögenswerten und abgesehen von den schon genannten, freilich bescheidenen Fürsorgeleistungen für Nazi-Opfer, in Österreich zu einer Zeit, als in Deutschland noch gar keine deutsche Justiz arbeitete, bereits die Volksgerichtshöfe gab, die sich sehr wohl bemühten, die Verbrechen des Nationalsozialismus mit rechtsstaatlichen Mitteln zu ahnden. Im übrigen sollten wir auch die Antwort unserer Elterngeneration, daß sie nämlich die oft jahrelange Kriegsgefangenschaft, dieVerluste an Leib und Leben zahlreicher Angehöriger, an Arbeitsplätzen und Wohnungen und oft an allen Gütern des täglichen Lebens als hinreichende Strafe für die Begeisterung von 1938 empfanden, durchaus ernst nehmen.
Selbstverständlich mußten ab 1945 die herrschenden politischen Kräfte - die Volkspartei, die Sozialisten und die Kommunisten - ihre eigenen Bilder von Österreich entwickeln. Dabei hatte die Volkspartei ebenso wie die KP einen deutlichen Vorsprung vor den Sozialisten, bei denen großdeutsche Ideen wesentlich stärker überlebten als in den anderen beiden Parteien. Außerdem knüpften beide an die ältere Österreich-Symbolik an.

3. Österreichische Symbole und Mythen

Nationen verständigen sich nicht nur über ihren Gruppennamen als eigene gesellschaftliche Gruppe, sondern auch über ein sozusagen mythologisches Instrumentarium. Nationen haben irgendeine Art von „Glauben“ gemeinsam, der erst die Sinnhaftigkeit ihrer Existenz (staatlich oder nicht) begründet. Dieser Glaube wird über gewisse Symbole sinn- und bildhaft ausgedrückt. Solche Symbole können überaus vielfältig sein - es kann sich um Wappen und Farben handeln, um Sprache und Literatur, um Personen und Gebäude, um bestimmte „Gedächtnisorte“ eben, um auch diesen Modeterminus hier anzubringen. Neben dem über solch mythologisches Inventar versicherten Selbstbewußtsein werden Nationen auch durch Selbst- und Fremdbilder definiert, durch Auto- und Heterostereotypen, die mit der „Stammessage“ zusammenhängen können, aber nicht müssen. Freilich ergeben die sozialwissenschaftlichen Analysen - die jüngste stammt von Max Haller und seinen Mitarbeitern in Graz /5/ - immer wieder Hinweise auf gewisse Probleme der Österreicher - nicht so sehr mit ihrer Identität (dem Wissen um das Dazugehören), als mit den symbolischen Besetzungen dieser Identität.
Das Wiederauftauchen Österreichs (als alt-neuer Kontinent) 1945 war im symbolischen Bereich zunächst einmal durch solches Anknüpfen an ältere Symbole und Klischees abgestützt worden. Das hätte durchaus auch problematisch sein können, da die SPÖ am Anfang gar nicht mittzog, die sich der Frage eines österreichischen Selbstbewußtseins erst verhältnismäßig spät, ab etwa 1956 zuwandte. Anders die KPÖ - Ernst Fischers einschlägige Bemühungen sind ja zur Genüge bekannt. Man sollte aber hervorheben, daß gewisse symbolische Bereiche doch rasch in allen drei Parteien außer Streit gestellt wurden. Es handelt sich um den Staatsnamen, die Verfassung, und die Staatssymbolik (Staatsfarben, Wappen und Hymne). Vergleicht man die Szenerie von 1945 mit jener von 1918/19, so ist zunächst auffällig, daß der 1918/19 so stark abgelehnt Name „Österreich“ jetzt als vollkommen unproblematisch empfunden wurde - und es auch blieb. Auch die Wiederinkraftsetzung der Verfassung von 1920 in der Fassung von 1929 ist eine bemerkenswerte Tat, bedenkt man nur die schweren Spannungen, von denen die Verfassungsreform 1929 begleitet war. Überaus rasch wurde auch die Frage der wichtigste Staatssymbole gelöst: Schon am 8. Mai wurde das Gesetz über das Staatswappen verabschiedet - man übernahm das Wappen der Ersten Republik mit der kleinen, aber entscheidenden Änderung, daß an den Fängen des Adlers nunmehr gesprengte Ketten auf die Wiedererlangung der staatlichen Unabhängigkeit verweisen. Hinsichtlich der Hymne war die musikalisch so schöne Haydn-Hymne durch die Geschichte ihrer diversen Texte leider zu einer nationalen und internationalen Unmöglichkeit geworden (aber bleibt uns jedenfalls in der Fassung als Streichquartett erhalten); sie wurde in einem zweistufigen Verfahren durch eine neue ersetzt, deren Musik von einem Zeitgenossen Mozarts, deren Text aber von Paula von Preradovic stammt.
Nicht wenige Menschen haben in den nun wieder gebrauchten Institutionen, Emblemen und Uniformen Elemente einer verlorenen und wiedergefundenen Heimat erlebt./6/ Freilich hat sich zwischen 1945 und 1995/96 sehr viel geändert. Neue Symbole traten neben und an Stelle der alten - die Neutralität löste die „österreichische Kultur“ und Bruno Kreisky Maria Theresia als Leitfigur ab (wenn man das so knapp zusammenfassen darf). Nur in manchen Zügen einer diffusen „österreichischen Lebensart“ schimmern zuweilen noch ältere Österreich-Stereotypen durch. Kompliziert wird die Kollektiv-Symbolik durch die Zuspitzung gewisser symbolischer Widersprüche seit etwa 1985, durch die das Österreichbild im In- und Ausland zum Teil deutliche Negativ-Konnotationen erhielt (Österreich als Nazi-Land), was wiederum zu deutlichen Gegenreaktionen führte. Andererseits sind einige kollektive österreichische Identifikationsfiguren, wie Neutralität oder Sozialpartnerschaft, in den letzten Jahren ins Gerede gekommen und haben etwas von ihrem frühren Glanz verloren. Hier liegen wohl die Gründe dafür, daß zur Zeit eine einigermaßen in sich geschlossene „nationale“ österreichische Mythologie nicht existiert und daß es im kollektiven Symbolhaushalt der Österreicher gewisse Unstimmigkeiten gibt.

4. Versuch einer Erklärung

Das Problem der österreichischen Identität läßt sich vielleicht dahingehend zusammenfassen, daß es schwer möglich ist, die in den verschiedenen ethnosbildenden gesellschaftlichen Prozessen (allein seit der Spätantike gibt es im heute österreichischen Raum mindestens deren sechs: Stammesbildungen der Völkerwanderungszeit, Landesbildung seit dem Hochmittelalter, Staatsbildung der Habsburger, das Scheitern der Revolutionen, die Entwicklung des Sprachnationalismus und die österreichische Nationsbildung nach 1945) entwickelten kollektiven Symbole irgendwie aufeinander zu beziehen oder auf einen Nenner zu bringen. Tatsächlich sind da unterschiedliche, zuweilen widersprüchliche Prozesse abgelaufen, mit erheblichen Oppositionen, wie sich in der massiven symbolischen Ablehnung alles „Habsburgisch-Österreichischen“ in manchen Segmenten der modernen Publizistik leicht zeigen läßt. Oder anders ausgedrückt: Die „junge“ österreichische Nation lebt auf Grund ihrer komplizierten Vorgeschichte mit und in einem Symbol-Raum, der vielfältig vorgeprägt ist und dessen Strukturen nur schwer als teleologische Vorgeschichte der als Ziel aufgefaßten demokratischen Republik zu interpretieren sind. Daher fällt die breite Akzeptanz der eigenen Nationalität und Staatlichkeit zusammen mit einer gewisse Schwammigkeit und Unsicherheit hinsichtlich des gemeinsamen Symbolhaushaltes. Aber damit werden wir Österreicher leben können müssen.

Anmerkungen:

1/ Der folgende Beitrag bietet - zum Teil in neustrukturierter Form - Überlegungen, die der Autor in seinem Buch "Nation Österreich. Kulturelles Bewußtsein und gesellschaftlich-politische Prozesse" (Studien zu Politik und Verwaltung, hg. v. Christian Brünner, Wolfgang Mantl u. Manfried Welan, Bd.4), Wien - Köln - Graz (Böhlau) 1996 (2. Aufl., ergänzt und erweitert) breiter dargelegt hat. Die Detailbelege sind in der Regel dort zu finden.
2/ Zum folgenden vgl. Richard G. Plaschka/GeraldStourzh/Jan Paul Niederkorn, Hg., Was heißt Österreich ? Inhalt und Umfang des Östereichnegriffs vom 10. Jahrhundert bis heute, Wien 1995.
3/ Felix Kreissler, Der Österreicher und seine Nation. Ein Lernprozeß mit Hindernissen, Wien 1984, S. 211
4/ Widerstand und Verfolgung in Niederösterreich Bd. 3, S. 88 ff.
5/ Max Haller, Hg., Identität und Nationalstolz der Österreicher. Gesellschaftliche Ursachen und Funktionen. Herausbildung und Transformation seit 1945. Internationaler Vergleich. Mit Textbeiträgen von Max Haller, Stefan Gruber, Josef Langer, Günter Paier, Albert F. Reiterer, Peter Teibenbacher. Wien - Köln - Weimar (Böhlau), 1996.
6/ Gerald Stourzh, Vom Reich zur Republik. Studien zum Österreichbewußtsein im 20. Jahrhundert, Wien 1990.

Vortrag auf der Generalversammlung der Alfred Klahr Gesellschaft im November 1996
Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft, Nr. 2/1997

 

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